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Version vom 28. Juli 2020, 17:19 Uhr
Das Interview mit Ernst Schlader fand am 30. März 2015 an der HSLU-Musik, Luzern Dreilinden statt.
Didaktischer Kanon
HM: Denkst du es macht Sinn, im Unterricht die einzelnen Parameter des Klarinettenspiels isoliert zu analysieren und zu erarbeiten? Oder machst du dies im Verlauf des musikalischen Arbeitens an einem Repertoirestück, so dass du bei Bedarf auf die einzelnen spieltechnischen Themen vertieft eingehst? Oder machst du beides?
ES: Wahrscheinlich muss man beides machen. Ich selber habe vom Spiel auf der modernen Klarinette sehr profitiert, weil Gerald Kraxberger, mein Lehrer in Linz, diese Parameter isoliert betrachtet hat. Er hat z.B. präzis gesagt, "deine Zunge funktioniert gut", aber "die Technik/das Zusammenspiel von Klang und Technik funktioniert nicht". Eric Hoeprich macht es genau umgekehrt: Er arbeitet nur an der musikalischen Gestaltung und lässt die technischen Parameter dann einfliessen. Beim Unterrichten merke ich, dass dies abhängig vom Spieler oder vom Studierenden ist. Man muss es jedes Mal neu angehen, abhängig davon, ob es ein Bachelor-Student ist, der das Rüstzeug erst lernen muss, oder ein Master-Student, bei dem man gewisse Dinge voraussetzen kann.
Wissensspirale
Nach der Wissensspirale von Ikujiro Nonaka: Man muss Wissen zuerst externalisieren, anschliessend anwenden, dann ist es in einem drinnen und wird also über das Implizite wieder externalisiert. Dann gibt es diese vier Formen, in denen die Spirale läuft. Und erst durch das Wiederholen festigt sich das Wissen. Darum war die Ausbildung früher so genial: Wenn einer mit neun Jahren schon ins Hoforchester gekommen ist, dann ist das keine Kunst, dass man mit 18 Jahren schon auf einem hohen Niveau war. Wenn man heute erst mit 19 Jahren ins Hochschulorchester kommt, danach alle Dinge mühsam im Einzelunterricht erlernen muss, braucht es meiner Meinung nach mehr Zeit als früher, wo man das Privileg hatte, schon früh einem solchen Orchester beizutreten. Ich glaube Stamitz kam mit neun Jahren schon ins Hoforchester.
Ansprache
HM: Auf der historischen Klarinette ist das c’’’, ein Gabelgriff, manchmal schwierig in der Ansprache. Oft unterbläst der Ton in die untere Lage. Welche instrumental-technischen Hinweise gibst du bei solchen Problemen? Kann man einen Katalog von Möglichkeiten nennen, die der Student ausprobieren kann? Oder gehst du zuerst aufs Material ein?
ES: Das ist natürlich situationsabhängig. Ich verlasse mich dabei auf meinen Professor aus Linz, Gerold Kraxberger, der didaktisch, pädagogisch vor allem diagnostisch wirklich ein Genie ist.
Folgende Parameter lassen sich benennen:
Blatt und Mundstück
Wir schauen sehr genau darauf, dass das Blattmaterial gut ist. Dafür haben wir auch eine Blattkopiermaschine, vor allem für Spieler des Deutschen Systems: Hier ist die Qualität sicher nicht so gut wie bei den Französischen Spielern. Es gibt einfach zu wenig Angebot. Wir schauen zudem auf die Qualität der Mundstücke. Das geht nur in Zusammenarbeit mit den Instrumentenbauern. Und erst wenn von daher grünes Licht kommt, versuchen wir z.B. das Problem der Ansprache zu lösen.
Ansatzlinie
Die Position des Mundstückes, d.h. wie weit liegt es im Mund – das sind heikle Themen.
Klangvorstellung
Bei der Klangvorstellung fliesst mit ein, ob der Student Angst hat oder nicht. Bei sehr vielen Leuten kiekst es in der oberen Lage und sie kriegen den Ton nicht raus, weil sie etwas probieren, das sie nicht können, etwas wovor sie Angst haben.
Luftgeschwindigkeit
Ausserdem glaube ich, dass Ansprache sehr viel mit der Luftgeschwindigkeit zu tun hat.
HM: Wie regulierst du die Luftgeschwindigkeit physiologisch? Gehst nur auf das Ausatmen ein, oder sprichst du davon, wie der Luftstrom in der Mundhöhle und eventuell im Kehlkopf, in der Stimmritze geformt wird?
ES: Ja zu letzterem – wobei das bei jedem anders ist. Für mich war mein Nebenfach-Unterricht auf der Trompete ausschlaggebend. Dort glaube ich verstanden und gelernt zu haben, was es heisst, die Zungenposition zu ändern und dadurch die Luftgeschwindigkeit zu beeinflussen. Das ist wie beim Flugzeug. Wenn die Zunge weiter oben ist, hat die Luft einen weiteren Weg und fliesst schneller. Dadurch kann man die Luft beschleunigen. Letztendlich ist dies nichts anderes als Vokale, die Sprache der historischen Spieltechnik. Bei manchen hilft die Erklärung anhand der Zungenstellung. Manche können damit nichts anfangen, da klappt es dann z.B. über Bilder oder über Text.
Übungen
HM: Machst du spezielle Übungen, um diese Positionen im Mund-Innenraum zu finden?
ES: Es gibt einige diagnostische Werkzeuge: z.B. darauf zu schauen, welche Tonhöhe der Spieler erzeugt, wenn er nur ins Mundstück allein reinbläst. Dabei spielen wir alle ungefähr die gleiche Tonhöhe. Wenn der Ton viel zu tief ist, ist die Luftgeschwindigkeit zu langsam, wenn sie zu hoch ist, ist entweder die Luftgeschwindigkeit zu schnell oder der Druck zu hoch.
Allgemeine Körperhaltung
HM: In welchem Moment des Studiums gehst du auf die Körperhaltung der Studierenden ein?
ES: Sofort. Schon Leopold Mozart geht mit einer Abbildung zu Beginn seiner Violinschule auf die richtige Haltung und auf die Fehlhaltung des Schülers ein. Das Problem ist, dass wir meistens Leute unterrichten, vor allem ich, weil ich auch Nebenfach-Studenten unterrichte, die schon ein Problem haben. Wenn ich Leute unterrichte, die mit ihrem Studium beginnen, ist es schon vom ersten Tag an ein zentrales Thema. Sie müssen sich zu Beginn sofort einen Balance-Kreisel kaufen. Sie müssen auch verpflichtend Sport machen, falls sie untertrainiert sind, keine Kraft im Oberarm haben und darum das Instrument nicht halten können, und folglich ständig Sehnenscheidenentzündungen haben.
HM: Weisst du genau, welche Muskelgruppen besonders gut ausgebildet sein müssen? Kannst du ein ideales Haltungsmodell physiologisch erklären?
ES: Nein, dazu fehlt mir das Wissen. Ich sicherere mich bei einer Kollegin ab, die Ärztin an der Hochschule ist.
Haltearbeit
ES: Was mich betrifft: Ich habe selbst Probleme [mit der Haltearbeit] gehabt. Von dem Moment an, als ich begonnen habe die Muskelpartien die das Instrument halten zu trainieren, waren die Probleme weg.
HM: Du zeigst auf den Oberarm: Wie weit hast du auch die Rückenmuskulatur hinsichtlich der Haltearbeit und der Fingergeläufigkeit trainiert?
ES: Das mache ich jede Woche extern in einer Gruppenphysiotherapie. Die Teilnehmer reichen von Rekonvaleszenten oder älteren Leuten, bis zu jungen Leuten, wie ich es bin, die einmal in der Woche in Linz, unter Aufsicht eines Physiotherapeuten, gezielt Übungen machen, auch an Geräten. Die Übungen, die ich mich traue weiterzugeben – denn man muss ja acht darauf geben, die Schüler richtig zu instruieren, ansonsten können sie sich dabei verletzen – die gebe ich weiter.
Fingergeläufigkeit
HM: Es ist eine Hypothese von mir: Fingergeläufigkeit ist nur möglich mit einer gut ausgebildeten Rückenmuskulatur.
ES: Absolut: Der Geiger Gunar Letzbor sagt, er spiele nur Geige, wenn er vorher Holz gehackt habe. Und das ist einer der besten Barockgeiger. Es ist diese Vernachlässigung des Körpers, die heute bei vielen Studierenden aufzufinden ist. Sie üben acht Stunden lang und sitzen vier Stunden vor dem Computer – das ist katastrophal.
Staccato, Artikulation
HM: Lass uns weiter die Parameter der Grundtechnik diskutieren: Das Staccato, die Artikulation. Gibt es eine Zungenform, eine Zungenstellung, und einen Berührungspunkt am Blatt, der ideal ist, und den es zu erarbeiten gilt? Gibt es eine Methode die richtig ist, oder gibt es verschiedene mögliche Varianten? Mit welcher Methode hast du die besten Erfahrungen gemacht? Genau an der Spitze der Zunge oder darunter?
Wo berührt die Zunge das Blatt?
ES: Sobald es ein Problem gibt, schaue ich die Position mit den Schülern an: Die banalste Übung, dass ich sie bitte die Position, wo die Zunge aufs Blatt aufschlägt, zu halten und dann die Zunge rauszustrecken. Das sieht zwar albern aus und ist für die meisten Studenten eine Überwindung. Jedoch sieht man ungefähr, sobald sie die Zunge rausstrecken und diese noch das Blatt berührt, wo die Zunge auf das Blatt aufschlägt. Das funktioniert ganz gut, das hat mein Lehrer auch mit mir gemacht. Es findet dabei natürlich eine leichte Verschiebung statt.
Position der Zunge
ES: Ansonsten gibt es die Methode der historischen Schulen: Wenn ein Staccato immer schlapp klingt, hilft es schon, wenn sie anstatt eines „ta ta ta“ ein „te te te“ aussprechen. Die Position der Zunge ändert sich unwillkürlich.
HM: Und wie ist es mit den Konsonanten: „te“ oder „de“, „ta“ oder „da“?
ES: Wie Backofen schreibt: Das Problem ist, dass wir das Mundstück im Mund haben und dadurch nicht so flexibel sind. Aber alles was an der Zungenspitze passiert, diese Variationen zwischen „te“ und „de“, die muss man beachten.
Ansatzformung
Ober- und Unterlippe
ES: Das Wichtigste, wieder etwas von meinem genialen Lehrer aus Linz, ist der Ringmuskel. Wenn dieser perfekt um die Lippen herum funktioniert, geht der Rest eigentlich automatisch in die richtige Richtung. Wenn der Ringmuskel um die Lippen zu schwach ist, fangen viele Klarinettisten an diesen zu kompensieren. Irgendwo anders. Und dann gibt es Probleme.
HM: Hörst du das am Klang an, wenn dieser Muskel zu schwach ist?
ES: Das hört man: Es fängt damit an, dass gewisse Haltetöne einfach nicht funktionieren. Der Ton beginnt dann zu zittern.
HM: Machst du Übungen, um den Ringmuskel zu trainieren? Lässt du Töne mit Doppellippenansatz spielen?
ES: Ich hab einen Kollegen, der den Doppellippenansatz selbst verwendet. Aber ich sehe da keine Notwendigkeit.
Übung
Es gibt eine Übung, die nennen wir Luft/Ton Spiel. Suche dir einen Ton aus, idealerweise einen Ton in der zweiten Lage, noch nicht das c’’’, und lasse nun Luft in das Mundstück rein. Aus dem Luftstrom formt man dann den Ton. Der Ton entsteht aber noch nicht vollständig, es entsteht ein Luft-Ton-Gemisch. Durch diese Art des Spielens lernen die Schüler, die richtigen Muskeln zu aktivieren. Es ist ja von der Muskelforschung her bekannt, dass ein sieben Sekunden dauernder Impuls genügt, um dem Muskel zu sagen: „Jetzt musst du wachsen“. Diese Übung soll also sieben Sekunden ausgeführt und anschliessend wieder eine Pause eingelegt werden.
HM: Das ist wie eine photographische Linse, die sich schliesst. Welche Rolle spielt dabei die Luftführung? Bleibt sie immer dieselbe?
ES: Nein, sie ist nicht statisch, sie ist variabel und flexibel: Das kann man an diesem Luft-Ton-Gemisch sehen. In dem Moment wo die Luft langsam ist, hört man nur das Rauschen. Wenn man die Luftgeschwindigkeit anzieht, dann kommt der Ton. Und die ideale Form, bei der der Muskel am besten trainiert wird, ist genau der Punkt, wo Luft und Ton gemischt sind.
HM: Ober- und Unterlippe werden bei dieser Übung im selben Masse trainiert?
ES: Ich denke schon, ja. Ich würde die Ober- und Unterlippe nicht trennen. Ich sehe es als Ringmuskel, und somit wird immer alles gleich trainiert.
Kieferposition
HM: Wird bei der vorherigen Übung auch gleich die Kieferposition mit einbezogen?
ES: Ja, absolut. Durch die Luftgeschwindigkeit wird diese reguliert: Wenn der Kiefer zu fest geschlossen ist, gibt es kein Luftgeräusch. Wenn er zu offen ist, gibt’s nur Luft.
HM: Und es wird auch nicht nötig sein, von der Kieferposition zu sprechen, da sie einen zu grossen Druck gegen Blatt und Mundstück ausübt?
ES: Wenn zu viel Druck herrscht, merkt man das sofort am "Mundstück-Quietschen" [wird das Mundstück alleine angeblasen, resultiert eine zu hohe Tonlage]. Und es ist so, dass bei den meisten Studierenden, die ich betreut habe, dann eine Reaktion bei der Wahl Blattstärke hilft. Dann ist das Problem sofort gelöst. Das ist etwas, das leider Gottes viele nicht wahr haben wollen. Das Blatt muss vom Lehrenden immer wieder kontrolliert werden, trotz den vielen Grippe-Viren! Wenn man das nicht kontrolliert, hat man keine Chance.
HM: Ist die Kieferposition je nach Tonhöhe auch veränderbar? Franz Joseph Fröhlich erwähnt das in seiner Schule um 1810.
ES: Du meinst das „Herumkauen“? Auf der modernen Klarinette habe ich gelernt, dass die Ansatzlinie immer gleich bleiben soll – wenn ich mich auf Videoaufnahmen sehe, merke ich aber, dass ich da unglaublich flexibel bin. Ich brauche das. Aber da sollte jeder selbst drauf kommen.
HM: Und ist diese Flexibilität auch bei der Artikulation zulässig? Darf sich der Kiefer mitbewegen?:
ES: Unbedingt! Aber prinzipiell muss die Artikulation funktionieren. Und dann, wie Bruckner es sagt: Wenn die Regel funktioniert, kann man sie brechen. Es stellt sich immer die Frage, von welchem Typ von Studierenden man spricht. Wenn es ein Anfänger ist, dann muss man ein gewisses Grundkonzept und Grundgerüst des Ansatzes herstellen. Er muss zumindest in der Lage sein, dass der Ansatz nicht wackelt. Aber dann zu sagen, es darf sich nichts ändern, ist so als würde man sagen, man dürfe nur mit einer Mundstellung sprechen.
HM: Und wenn beim Artikulieren jeder Ton zuerst seine richtige Tonhöhe finden muss, ist dabei nicht zu wenig Stabilität der Grund?
ES: Ja, dann ist es meistens diese „gu, gu, gu“ Artikulation, wo der untere Teil des Kiefers zu weit unten ist. Das muss man abstellen.
Mundinnenraum
HM: Welche Bedeutung hat für dich die Spannung im Mundboden als untere Abgrenzung des Mundinnenraumes? Arbeitest du damit, oder ist dies eine Partie, die du bewusst locker lässt? Wenn du ein „a“ besonders prononciert ausformst, wenn du es sehr locker vokalisierst, bleibt auch der Mundboden entspannter.
ES: Ich vermeide immer den Begriff "Spannung", weil er bei den meisten Spielern und auch bei mir etwas Negatives auslöst. Ich versuch den Begriff „Mundraum“ zu erklären, der sich gegebenenfalls dehnt. Bei „o“ z.B. geht der untere Teil nach unten. Oder beim „i“ geht hinten was nach oben, wodurch Spannung entsteht. Aber ich versuch den Begriff "Spannungen" zu ignorieren, da habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Die Leute haben Angst, zu viel über Spannung nachzudenken, weil es in die falsche Richtung führt.
HM: Wie ist es mit der Ausformung der Mundhöhle, des Rachen ganz hinten: Ist das ein spezielles Thema oder ist dieser Bereich mit der Luft-Ton-Übung mit einbezogen?
ES: Das ist mit einbezogen. Es ist wie beim Spielen auf der Naturtrompete: Wenn man einen Triller auf diesem Instrument ausführt, geht das nur über die Stellung der Zunge und diese führt bis in den Rachen hinunter. Und das versuche ich auf die Klarinette zu transferieren. Ich nenne das immer "elastisch". Und mit dem Wort "elastisch" können die meisten sehr viel anfangen. Es bedeutet für jeden etwas anderes, aber es ermöglicht den Leuten, gewisse Dinge zu tun, die sie sonst in ihrer Verkrampfung nicht tun können.
Flexibilität
HM: Und diese Flexibilität ist die Voraussetzung für die Beherrschung der Ansprache und Artikulation sowie die Dynamik in den verschiedenen Registern?
ES: Absolut. Und das heisst auch, dass sich der Rachenraum oder überhaupt die Mundpartie in den verschiedenen Registern verändern darf. Die Schule des modernen Ansatzes, der für jedes Register gleich sein muss, halte ich für einen Fehler. Er muss veränderbar sein. Er war auch veränderbar, darum gibt es z.B. von Franz Xaver Thomas Pokorný Konzerte für den ersten Klarinettisten und Konzerte für den zweiten Klarinettisten. Und im Orchester gibt es einen tiefen Hornisten und einen hohen Hornisten. Warum soll nur auf der Klarinette jeder Typ gleich sein? Da ist sinnlos.
Messa di Voce
HM: Gibt es eine Übung für das Dehnen der Mundhöhle, welches du vorhin erwähnt hast?
ES: Dafür gehen wir einen Schritt weiter, vom Luft-Ton-Gemisch zum geräuschlosen Ton: Dann versuchen wir, einen Ton vom pianissimo, unhörbar, zum lautesten fortissimo zu spielen, und wieder zurückzunehmen. Und dabei ist es eben wichtig, dass man nicht im fortissimo plötzlich aufhört, weil die Luft aus ist, sondern dass man sich die Luft so einteilt, dass man vom pianissimo über das fortissimo wieder zum pianissimo zurückkommt. Ich glaube in diesem Moment lernt dann der jeweilige Spieler, den Mundraum so zu formen, dass dieses crescendo – decrescendo funktioniert, auch klanglich.
HM: Eine ausgeweitete „Messa di voce“- Übung, die sich zu Beginn und am Ende mit der „Übung Luft-Ton-Gemisch“ kombinieren lässt.
ES: Ja, man kann ja dann variieren, wie der Ton aufhören soll.
Mundstück-Übung
ES: Was wir zwischen diesen Übungen immer wieder machen – ich lege das mit jedem Studenten einzeln fest – welcher Ton beim Spielen auf dem Mundstück allein zu erklingen hat. Bei meinem modernen Mundstück ist es das gis’’, bei den historischen ist es ein anderer Ton. Wenn sich das Mundstückgeräusch, dieses kurze Quietschen, im Bereich bewegt, wo es akzeptabel ist, geht die Übung weiter. Sobald es zu hoch ist, ist zu viel Druck da. Muskeln lösen, und dann wird die Übung beendet. Es ist wie in der Physiotherapie, ich lerne das jede Woche wieder: Wenn der Muskel übertrainiert ist oder überanstrengt ist, dann entsteht Muskelkater und dann ist die Übung sinnlos.
Kinn
HM: Achtest du auf eine bestimmte Form des Kinns? Es gibt ja in vielen Schulen die Anweisung, immer mit flachem Kinn spielen zu müssen.
ES: Nein. Das habe ich auch als Student der modernen Klarinette nicht mitbekommen. Das braucht man nicht.
HM: Wenn der Ringmuskel gut trainiert ist, ist das nicht nötig.
ES: Ja.
Stimmritze, Glottis
HM: Ist für dich die Stimmritze auch ein Thema? Gewisse Studien weisen auf die Flexibilität der Stimmritze hin, um hier je nach Registerlage die Luftgeschwindigkeit zu regulieren.
ES: Nein, davon habe ich noch nie gehört. Ich nutze dazu nur die Vokalformung, aber nicht die Stimme.
HM: Ich meine damit das Formen des Luftstromes, wie wir es beim Flüstern anwenden.
ES: Dafür habe ich schon ein Bild, aber das nenne ich Flageolett.
HM: Machst du dann Übungen, bei denen du ohne Gebrauch der Überblasklappe die verschiedenen Register anbläst?
ES: Nein, das passiert mir automatisch viel zu oft – ein Quietschen. (Die Leute die in Trossingen sind, müssen viel zeitgenössische Musik spielen, dass sie das können.)
Atemstütze
HM: Du hast weiter oben von Luftgeschwindigkeit gesprochen und hast dabei auch immer mit einer Handbewegung und mit deiner Körpersprache auf einen Stützmechanismus hingewiesen. Sprichst du von Stütztechnik?
ES: Ja, ich spreche auch von Stütze. Die Stütze braucht man, sie ist vorgegeben. Wenn man nicht stützt, würde das Zwerchfell kollabieren. Das Problem sehe in dem was ich in der Musikschule gelernt habe. Da hiess es immer, Stütze ist etwas, was wie knallharter Stahl ist, der sich nicht verändert. Es gab dort einen Lehrer, der konnte am Boden liegend immer noch spielen, während sich der Schüler auf seinen Bauch stellen durfte. Das finde ich blödsinnig.
Körperspannung
HM: Wie vermittelst du das Aneignen einer guten Stütze?
Balancekreisel und Trampolin
ES: Auf dem Balance-Kreisel. Wenn die Studierenden auf dem Balance-Kreisel stehen und einen gespielten Ton nicht aushalten können, funktioniert die Stütze gar nicht. Sobald die Studierenden auf dem Kreisel stehen, kriegen sie eine natürliche, ausbalancierte Körperspannung. Das einzige Problem, welches viele haben, ist, dass sie zu hoch atmen. Das merkt man auf den alten Instrumenten, bei denen weniger Luft auf einmal herein passt als auf den modernen und die Schüler dann nach vielleicht 30 Mal Einatmen zu viel Luft in sich haben und zu wenig herausbringen. Und da ist die „Stütze“ [im alten Sinn, siehe oben] völlig kontraproduktiv, denn es geht ja darum, dass man den Bauchraum erweitert.
Die Arbeit am Balance-Kreisel ist genial. Wir haben auch noch ein Trampolin an der Hochschule. Das hilft auch sehr. Wenn die Studenten zwei Minuten auf dem Trampolin hüpfen, sind sie meistens gelockert. Das Hauptproblem sind oft die Schultern. Wenn diese zu weit oben sind, ist im unteren Bereich alles verspannt. Durch das Hüpfen löst sich alles wieder.
Übung
ES: Es gibt eine gute Übung: Wenn man auf einem Stuhl sitzt und sich nach vorne beugt, wird beim Einatmen der Raum in den Flanken erweitert. Diese Übung soll dann auch auf das [normale] Sitzen transferiert werden: Sich vorzustellen, dass der Bauch nicht nur nach vorne Luft herein lässt, sondern eben auch in den Rücken. Das kann man trainieren. Das war eine Standard-Übung bei meinem „modernen“ Professor. Er sagte: „Herkommen. Hand her!“, und man konnte bei ihm fühlen, wie sehr er den Rücken herausgerückt hat. Das muss man immer wieder vermitteln.
HM: Du beschreibst die Flanken-Atmung, die auch das kombinierte Aktivieren von Zwerchfell und der Zwischenrippenmuskulatur einsetzt.
ES: Ja, genau. Ich habe in der Physiotherapie gelernt, dass viele Menschen unbewegliche Rippen haben. Das ist wieder etwas, das von „Untrainiertheit“ und von Verspanntheit herkommt. Das kann man z.B. durch Schwimmen, durch das Crawlen trainieren.
Beweglichkeit des Brustkorbes
HM: Hast du Übungen, um diese Beweglichkeit des Burstkorbes zu entwickeln? Übungen ohne Klarinette?
Sport
ES: Das trau ich mich nicht, weil man nie weiss, was beim Studenten passiert. Aber ich motiviere sie zum Schwimmen, zum Joggen. Sie müssen das machen. Und bei einem Studenten habe ich mir sogar wöchentlich 10 Liegestützen vorzeigen lassen, um zu sehen, dass er wirklich trainiert. Man muss oft ein bisschen unkonventionell denken.
Variantinstrumente
ES: Eine sehr gute Übung für Leute die verspannt sind, ist ein Instrumentenwechsel zu verschreiben und zu sagen: „Du spielst jetzt die nächsten zwei Monate keine Klarinette mehr, sondern nur Bassklarinette.“ Das habe ich bei einem Kommilitonen selber erlebt, damit war das Problem [der Verspanntheit] bei ihm gelöst. Weil er auf der Bassklarinette ohne diese übliche Angespanntheit gespielt hat, konnte er das auf die Klarinette übertragen. Das machen wir in Trossingen auch auf den alten Instrumenten. Es bedingt eine andere Luftführung und dadurch erlangen sie Flexibilität. Das Thema Stütze und Atmung ergibt sich dabei von selbst.
Intonation
HM: Intonation, das ist besonders bei den alten Klarinetten ein Thema. Eine Voraussetzung für eine gute Intonation ist sicher eine gute Gehörsschulung. Aber wie gehst du die Aufgabe instrumentaltechnisch an? Welche Anweisungen gibst du neben den Korrekturen durch Griffe, um bei Bedarf die Tonhöhen nach unten zu korrigieren?
Spezielle Griffe
ES: Am deutschen System – bei der alten Klarinette auch – deckt man viel mehr ab als beim französischen System.
Übungen
ES: Das Problem des zu hohen Spielens, was ich für eines der grössten Probleme halte – es ist wirklich furchtbar, wie Klarinetten immer zu hoch klingen – umgehen wir so, dass alle Studenten die ich betreue einen Cent [Hertz] tiefer üben, als normal üblich. D.h. man übt auf 429 Hz und nicht auf 430 Hz. Modern übe ich z.B. auf 441 Hz, nicht auf 442 Hz, damit ich sofort das tiefe Intonieren übe.
HM: Das ist die praktische Anweisung. Und worauf müssen sie dabei achten?
Ursachen
ES: Wenn man permanent zu hoch ist, stimmt irgendetwas mit dem Ansatz oder mit dem Blatt nicht. Ich vermeide es, Lösungen anzubieten, weil man die eigentliche Ursache suchen muss. Und die ist meistens Muskelschwäche [Ringmuskel], oder eine falsche Atmung bzw. Luftführung.
Wechselwirkung „Ansatz – Stütze – Luftführung“
HM: Es besteht also ein Zusammenhang zwischen Atemstütze, Luftführung und Ansatzdruck. Die drei Komponenten gilt es untereinander auszubalancieren. Könnte man das auch so formulieren: Fehlende Atemstütze hat einen zu hohen Luftdruck zu Folge, der auch einen zu hohen Ansatzdruck bedingt. Und erst langsamere Luft – man kann sie durch die Zungenstellung beschleunigen – ermöglicht einen lockeren Ansatz, einen geringeren Ansatzdruck.
ES: Ja – aber das ist dann klanglich gefährlich. Ich stell mir vor, dass die Luft schnell ist, und dass der Ansatz reguliert, wie viel Luft in das Instrument reingeht. Die Luft ist immer schnell. Es gibt dann aber einen dünnen und einen dicken Luftstrom. Das sind nur Bilder. So kann man Intonation regulieren. [Anmerkung: Öffnet sich die Lippenstellung durch Entspannen des Ringmuskels, fliesst mehr und schnellere Luft durch das Mundstück; Es entsteht ein schneller, dicker Luftstrom und die Intonation ist eher tiefer. Umschliesst der Ringmuskel das Mundstück, und intensiviert sich die Ansatzformung, fliesst schnellere Luft mit etwas mehr Druck, der durch die Atmungsmuskulatur hergestellt wird, durch das Instrument. Dies hat eine höhere Intonation zur Folge.]
HM: Stimmt das: Wenn man nur den Ansatzdruck verringert, ohne dabei die Luftführung anzupassen, resultiert eine tiefere Intonation? Der Ton ist tiefer, hat aber seine Konsistenz verloren. Wenn man die Luftführung entsprechend anpassen kann, dann klingt er auch in tieferer Intonation noch gut – insbesondere bei den historischen Klarinetten.
ES: Ja, hier liegt das Problem, weil das Material einfach leichter ist.
HM: Welche Anweisung betreffend Luftführung gibst du in dieser Situation, um leichte Blätter spielen zu können? Nun nicht im Bereich der Ansatz- und Vokalformung, sondern was die Atmungsmuskulatur und was die Haltung betrifft? Gehst du wieder zurück auf den Balance-Kreisel?
ES: Dies ist abhängig vom Spieler. Geht es bei dieser Frage nun wirklich um die Intonation?
HM: Ja. Oft versucht der Student die Intonation nach unten zu korrigieren, er zieht das Kinn herunter, und sorgt für weniger Ansatzdruck. Der Ton ist tiefer, aber die Klangqualität ist fahl und ohne Kern.
ES: Ich habe früher immer zu hoch intoniert, ich kann nicht sagen, wie ich es genau gelernt habe. Aber ich habe viel durch dass Zusammenspiel gelernt. Das Mitspielen mit dem Schüler und ihm z.B. das Gefühl einer reinen Terz zu geben. Und er muss die Intonation dann selber suchen. Da sind oft so kleine Muskeln im Spiel, die man nicht externalisieren kann. Der Schüler muss selbst danach suchen, er muss es implizit verstehen. Ich habe bis jetzt noch keine technische Möglichkeit gefunden es zu transferieren. Ausser das Vorspiel, das gemeinsame Spiel, und immer wieder das Suchen nach reinen Akkorden. Und das tiefe intonieren beim Spiel. Also wirklich ein Hertz unter der üblichen Intonation.
Klangfarbe bedeutet Intonation
HM: Da erübrigt sich auch die Frage nach der technischen Kontrolle über die Klangfarbe. Das geht eigentlich in die selbe Richtung?
ES: Absolut, ja. Und Klangfarbe bedeutet Intonation. Das haben wir ja gesehen: Man kann einen Akkord spielen der sauber ist, aber am Stimmgerät völlig ausschlägt. Und somit macht das Üben mit dem Stimmgerät für die Intonation auch nur bedingt Sinn. Man kann am Stimmgerät sehr sauber spielen, aber die Farben stimmen nicht. Es ist so wie Marx in seiner Instrumentationslehre von 1848 (nach der Bruckner studiert hat) schreibt: Flöte und Klarinette sowie Oboe und Klarinette zusammen klingen schwach. Da überdecken sich die Obertöne, es klingt nicht gut. Es gibt viele Stellen, wo so etwas vorkommt: Schuberts Unvollendete oder bei Bruckner. Ständig Unisono von Klarinette und Oboe. Man muss mit Klangfarben experimentieren, die sich mit den Oboen mischen. Und so was kann man im Unterricht schon üben, indem man in der Kammermusik darauf aufmerksam macht, sobald die Schüler mit einer Flöte oder mit einer Oboe zusammen spielen. Farben im Tun erlernen. Mit der Farb-Anweisung haben die Studenten oft Probleme. Das können sie wieder nur implizit erfahren.
Atemtechnik
HM: Kann man richtig oder falsch einatmen?
ES: Ja. Der grösste Fehler ist, dass zu viel eingeatmet wird.
Lernen mit Bildern
ES: Dann versuche ich den Studenten Bilder zu geben, um die Einatmung zu minimieren. Erstaunlich gut funktioniert dabei folgende Anweisung: Atme ein und stell dir vor, an einer Blume zu riechen. Z.B. beim Klarinettenkonzert von Mozart, im langsamen Satz: Da haben viele Leute zu Beginn eine zu grosse Atmung. Wenn diese kleiner ist, können sie [die Studierenden] später mehr Luft holen, und kommen besser durch.
HM: Dann hat man auch nicht das Gefühl von „zu viel Luft“ und man kann besser Stützen. Die Dehnbarkeit des Atemapparates bleibt auch während der Ausatmung möglich.
Atmung als rhetorisches Element
ES: Ja. Das ist überhaupt eine Erscheinung der „modernen Spielern“, die Atmung zu dämonisieren: Es wird versucht, die Atmung [das Einatmen] über Zirkuläratmung zu unterdrücken. Ich finde aber die Atmung als rhetorisches Element extrem wichtig. Sonst stellt das Ganze nur einen einzigen Atemschlauch dar. Man muss auch schon bei der Einatmung der Musikalität ihre Zeit geben. Und wenn diese ihre Zeit bekommt, dann wird’s richtig.
HM: Das musikalische Geschehen darf sich ruhig auch aus dem Metrum lösen?
ES: Es muss Zeit haben!
HM: Und die musikalische Phrase soll nicht auf Maximum ausgedehnt und dadurch zur sportlichen Leistung werden. Es darf öfters geatmet werden.
ES: Es ist unmusikalisch. Nehmen wir z.B. die ersten zwei Takte aus dem langsamen Satz vom Schubert-Oktett: Was da „herumgedoktert“ wird, damit man die Phrase in einem Atem spielen kann! Wenn ich da nach Absprache mit den Kollegen eine passende Atmung ausmache, ist das kein Problem.
Fingertechnik und Haltearbeit
HM: Fingertechnik und Haltearbeit des Instrumentes: Was ist wichtig bei der Haltearbeit, worauf achtest du bei den Studenten? Ich denke insbesondere an die Form und Position der Handgelenke und der einzelnen Finger.
Flexibilität
ES: Bei der alten Klarinette ist es ohnehin so, dass man mehr Flexibilität einfordert, alleine schon weil man so viele verschiedene Instrumente spielt. Das wichtigste ist, dass das Handgelenk locker bleibt. Wir versuchen, dass hier keine Spannung in der Handwurzel entsteht.
Daumenhalter
ES: Es ist erstaunlich, was die Auswirkung eines nicht vorhandenen Daumenhalters ausmacht. Beim Chalumeau gibt es keinen Daumenhalter, es gibt ihn eigentlich auch bei der klassischen Klarinette nicht. Wir geben dann einen [Daumenhalter] darauf, aber auf der Barockklarinette müssen die Studenten ohne Daumenhalter spielen. Dann müssen sie intuitiv diesen „Krokodilgriff“ lernen. Dabei geht es darum, dass der kleine Finger oder der Mittelfinger zusammen mit dem Daumen die Balance haltet. Dadurch trainiert man verschieden Muskeln. Ich habe bisher noch nie ein Problem gesehen.
Stützfinger
HM: Du benutzt immer einen Finger der rechten Hand, zusammen mit dem rechten Daumen als Stützfinger. Die Balance wird mit dem Ansatz ergänzt.
ES: Richtig. Und bei der modernen Klarinette gibt es heute neue Ansätze. Mein Instrument z.B. hat eine verdickte Stelle hinten. Wo der Daumenhalter angebracht wird, ist noch eine Holzplatte. Das ist ein zweiter Weg, das ist ergonomisch. Der Daumen ist in derselben Weise wie die anderen Finger gebogen. Der Daumenhalter selbst ist elastisch, der richtet sich nach der Position des Daumens aus. Ich habe Dinge gesehen, bei asiatischen Studierenden, die hier einen Knuppel raushaben [die eine Verformung am Daumen haben] – das geht einfach nicht!
Der „runde“ Daumen
HM: Siehst du das auch so: Wenn der Daumen ein bisschen rund ist, sind die anderen Finger automatisch auch rund. Wenn der Daumen sich nach aussen biegt, sind auch die anderen Finger steif.
ES: Genau. Das ist eben bei den Klarinetten von Gerold Angerer so genial. Er setzt den Daumenhalter auf eine Verdickung auf, dadurch muss der Daumen rund sein. Das Ganze ist viel ergonomischer.
HM: Der Daumen, seine Position und Form, ist eigentlich ausschlaggebend für die Geläufigkeit.
ES: Genau. Er muss am meisten Haltearbeit leisten. Deshalb muss man auf ihn besonders acht geben. "Rund" ist ein schönes Bild. Und was bei der alten Klarinette dazu kommt, ist, dass es dieses so genannte „schöne Greifen“, dass die Fingerkuppen nicht überhängen dürfen, bei uns nicht gibt. Manchmal müssen die Fingerkuppen überhängen, bedingt durch gewisse Griffkombinationen. Und das finde ich auch immer für Studenten, die von modernen Klarinetten kommen, sehr befruchtend. So lernen sie nämlich, dass die Fingerhaltung manchmal auch flach sein muss, und dann aber wieder aufstehend [runde Finger].
Haltearbeit und Ansatzlinie
HM: Gibt es ein Wechselspiel zwischen Ansatz und Haltearbeit? Nutzt du die Möglichkeit aus, dass man mit der Haltearbeit die Ansatzlinie verändern kann?
ES: Nein.
HM: Franz Joseph Fröhlich schreibt davon in seiner Schule: Je nach Tonlage kann man mehr oder weniger des Mundstücks in den Mund nehmen.
ES: Im 18. Jh. und Anfang des 19. Jh. war das sowieso noch anders: Als sie mit dem Blatt nach oben spielten, war der Anspielwinkel viel steiler. Ich finde immer, der Student muss selber darauf kommen.
Musikalische Parameter
Artikulation
HM: Artikulation hat als Gestaltungsmittel grosse Bedeutung. Was bedeutet ein Punkt, was bedeutet ein Keil? Hier findet man ganz unterschiedliche Anweisungen in den historischen Schulen.
Die Sprache als Orientierung
ES: Man muss alles im Zusammenhang sehen, und die Lösung, die für alles funktioniert, ist die Sprache. Wenn Jost Michel schreibt, die Silbe für die Artikulation sei „tu“, heisst das für uns Deutschsprachige „tü“. Und genau so ist es im Deutschen. Wenn Backofen als gebürtiger Darmstätter „tä“ schreibt, ist dies nicht dasselbe „thä“, wie das eines Norddeutschen. Es ist entspannter. Über die Artikulation von Sätzen und Worten kriegt man das hin. Und es können die banalsten Dinge sein. Sobald ein Text darunter liegt und das rhetorische Element hervortritt, funktioniert es.
HM: Und das hilft auch für die Phrasierung.
ES: Ich finde einfach, wenn man Lehrpersonen zusieht, die den Studierenden die Noten mit Punkten und Keilen vollschmieren – das ist sinnlos. Das ist so, wie wenn man ein chinesisches Gedicht nur mit Lautschrift aufsagt. Das geht auch nicht. Man muss es auch verstehen. Und das geht nur über den Text.
HM: Herzlichen Dank! (Habe ich noch etwas vergessen?)
Schlussbemerkungen
Österreichische Spieltradition
HM: Wo hast du dein Studium absolviert und nach welcher Tradition wurdest du im Klarinettenspiel unterrichtet?
ES: Das Studium habe ich bei Herrn Professor Gerald Kraxberger an der Bruckner Universität in Linz absolviert. Das ist ganz klar die österreichische Spieltradition, mit Fokussierung auf das österreichische Klarinettenmodell und den dementsprechenden Klangvorstellungen. Mein zweiter Lehrer war dann Eric Hoeprich in Den Haag und die von ihm begründete Tradition der historischen Spieltechnik.
Wenn ich nicht so einen genialen Lehrer in Linz gehabt hätte, dann müsste ich heute nicht mehr spielen. Gerald Kraxberger ist pädagogisch einer der genialsten Lehrer den ich kenne. Er hat Leute gerettet, von denen man dachte, sie würden nie Klarinette spielen können. Er arbeitet auch mit unorthodoxen Methoden. Mit Balance-Kreiseln, Übungen auf dem Boden für das Training von Mikromuskeln sowie Alexandertechnik.