Ansatz, traditionelle Formen

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Entsprechend den Entwicklungen im Instrumentenbau, sowie regionalen und klanglichen Traditionen folgend wurden unterschiedliche Techniken der Ansatzformung gepflegt.

Blatt oben oder unten?

Die Frage nach der richtigen Position des Blattes - soll es Ober- oder Unterlippe berühren? - beschäftigte während des 19. Jh. alle namhaften Klarinetten Pädagogen. Die heute gebräuchliche Ansatztechnik mit Blatt nach unten und Zähnen auf dem Mundstück hat eine lange Entwicklung hinter sich. Das Wissen und Experimentieren mit den früheren Formen der Ansatztechnik erweitert die Flexibilität aller am Ansatz beteiligten Bereiche. Die Position des Unterkiefers, die Form und Spannung der Lippenmuskulatur und alle in der Mundhöhle für die Klangqualität relevanten Vorgänge werden ins Bewusstsein gerückt.

„Übersichblasen“

Der Spielpraxis von Oboe und Fagott folgend wurde die Klarinette, im 18. Jhd. auch meist von Oboisten und Fagottisten gespielt[1], mit entsprechendem Ansatz angeblasen: Mundstück und Blatt wurden von Ober- und Unterlippe umhüllt. Dabei kontrollierte die Oberlippe den Druck auf das Blatt, die Unterlippe hatte Kontakt mit dem Mundstück, das damals auch deutlich schlanker gebaut wurde. Diese Anblasart, in den historischen Unterrichtswerken „Übersichblasen“ genannt, wird in der heutigen Fachliteratur als maxilliarer Ansatz[2] bezeichnet (von lateinisch Maxilla, der Oberkiefer).

Das „Übersichblasen“ wurde im ausgehenden 18. Jhd. in Paris gelehrt, wo auch von Amand Vanderhagen[3] und Jean-Xavier Lefèvre[4] die ersten umfassenden Unterrichtswerke für Klarinette erschienen sind.

Nach der Französischen Revolution wurde diese Anblastechnik im Einflussbereich des „Conservatoire National de Musique“ bis in die 1820-er Jahre vertreten.

In Italien setzen die Klarinettisten die Tradition des „Übersichblasen“ fort und die Methode hielt sich bis in die Mitte des 20 Jhd. Ferdinando Busoni (1866-1925)[5], der Vater der Komponisten Ferrucio Busoni, hielt das „Übersichblasen“ für das einzig Richtige, da der Klang im Kontakt mit der schwächeren Oberlippe weit modulationsfähiger und weicher, die Möglichkeiten der Schattierungen grösser und die Intonation reiner war.

Wichtigste Vertreter der dem Bel Canto nahe stehenden „Neapolitanischen Schule"[6] sind Fredinando Sebastiani[7] (1803-1860), und sein Schüler Gaetano Labanchi (1829-1908). Zusätzlich zu den klanglichen Vorteilen und zur Variabilität der Artikulationsmöglichkeiten, die das „Übersichblasen“ mit sich bringt, hebt Gaetano Labanchi die grossen dynamsichen Möglichkeiten bis hin zum Verklingenlassen des pianissimo hervor:

„Si può talmente assottigliare da produire i suoni di un'eco piu o meno lontana comecchè si voglia.“

Man kann auf diese Art die Klangproduktion dermassen verfeinern, dass man die Töne nach Belieben in einem näher oder weiter entfernt klingenden Echo spielt.

Gaetano Labanchi: Gran Metodo Progressivo per Clarinetto[8].

„Untersichblasen“

Beim „Untersichblasen“ berührt das Blatt die Unterlippe. Diese Ansatzart, auch mandibularer Ansatz[2] genannt (von Lateinisch Mandibula, der Unterkiefer), empfiehlt der "Bandmaster" Lorents Nicolai Berg (1782)[9]. Diese Technik fand danach zuerst im deutschen Sprachraum Verbreitung.

„Untersichblasen“ als Doppellippenansatz

Diese Ansatztechnik - das Blatt berührt die Unterlippe, die Oberlippe bedeckt die oberen Zähne und umhüllt das Mundstück - kann in den Unterrichtsmethoden des Conservatoire de Paris bis in die Anfänge des 20. Jh. als Standard nachgewiesen werden.[10] [11] Heinrich Baermann feierte mit dieser Anblastechnik 1817/18 in Paris als Solist grosse Erfolge. Frédéric Berr, Professor des "Conservatoire National de Musique" 1831-1836, war von den dynamsichen und klanglichen Möglicheiten und von der Ansatztechnik Heinrich Baermanns überzeugt, und führte das "Untersichblasen" als Standard in Frankreich ein.

„Ca permet une grande fléxibilté de dynamique; forte avec beaucoup de force, piano écho avec tant de douceur qu’on aurait cru que les sons venait d’une salle voisine"... je conseillerai de tenir en garde contre une mauvaise habitude qui existe en Allemagne: c’est de mordre sur le bec. Ce défault donne une mauvaise qualité de sons, et nuit à la flexibilité de l’expression.“

Das [Untersichblasen] erlaubt eine grosse dynamische Flexibilität; das Forte erklingt mit viel Kraft, das piano echo mit soviel Zartheit, dass man glaubt, die Klänge kämen aus einem benachbarten Zimmer.... Ich rate jedoch, sich vor einer schlechten Gewohnheit, die in Deutschland vorkommt, in Acht zu nehmen: das ist das Beissen auf das Mundstück. Dieser Fehler gibt eine schlechte Klangqualität und zerstört dei Flexibilität des Ausdruckes.

Frédéric Berr: Traité[12]

Auch zeitgenössische Pädgogen empfehlen die Anwendung des Doppellippenansatzes für Übungen der Tonbildung, siehe Ansatzformung.

"Untersichblasen", heute verbreiteter Ansatz

Carl Baermann, der Sohn Heinrich Baermanns, hält den Ansatz als "für die Tonbildung das wichtigste, ja, er ist eigentlich die Tonbildung selbst." [13].

Carl Baermann war kompromissloser Verfechter des „Untersichblasens“. Im Unterschied zu den in Frankreich und Italien verbreiteten Lehrmeinungen mussten dabei die oberen Zähne und nicht die Oberlippe das Mundstück berühren. Um das Mundstück vor Abnützungen zu schützen, wurde es durch eine Silberplatte geschützt. Angebliche klangliche Vorteile des Doppellippenansatzes hielt Baermann als Selbsttäuschung:

„[...] diese Anblasart ist natürlicher und zweckmässiger [...] da die Ausdauer und daher in notwendiger Folge die Sicherheit wenigstens die doppelte ist [...] Viele Klarinettisten spielen die Ober- und Unterlippe über die Zähne gezogen, wodurch der Ton dem Bläser selbst, jedoch nur scheinbar, weicher klingt [...]“

Carl Baermann: [7][13]

Kombinieren von einfachem- und Doppellipenasnatz

Durch regelmässiges Üben mit Doppellippenansatz können die Vorteile dieser Ansatzart (Unabhängigkeit von Vokal- und Ansatzformung, Klangfülle durch Ausformung der Mundhöhle, kombiniert mit dynamischer und intonatorischer Flexibilität, Schonen der Unterlippe) mit den Vorteilen des einfachen, herkömmlichen Ansatzes (Schonen der Oberlippe, Ausdauer und Stabilität der Toführung) kombinert werden.

Einzelnachweise

  1. Joan Michelle Blazich[1]: Amand Vanderhagen: „Original Text, English Translation, and a Commentary on Amand Vanderhagen’s Méthode Nouvelle et Raisonnée Pour La Clarinette (1785) and Nouvelle Méthode de Clarinette (1799): A Study in Eighteenth-Century French Clarinet Music. Edwin Mellen Press, Lewiston 2009, S. 3. Stand 24. Juli 2014
  2. 2,0 2,1 Heike Fricke: Die Klarinette im 18. Jahrhundert: Tendenzen und Entwicklungen am Beispiel der Sir Nicholas Shackleton Collection. Finkenkruger Musikverlag, Falkensee 2013, S. 269
  3. Amand Vanderhagen: Méthode nouvelle et Raisonnée. Paris 1785.
  4. Jean-Xavier Lefèvre:[2]Méthode de clarinette adoptée par le conservatoire pour servire à l’ètude dans cet établissement. Paris 1803. Stand 25. Juli 2014
  5. Ferdinando Busoni: Scuola di perfezionamente per il clarinetto: scale di esercizj in tutti toni...con aggiunta di sette grandi studi. Hamburg-Cranz, 1883. Zitiert nach Eric Hoeprich: The Yale Musical Instrument Series, The Clarinet. Yale University Press: New Haven and London 2008. S. 201-202. Stand 18. Juni [3] 2014
  6. Ingrid Elizabeth Pearson[4]: Ferdinando Sebastiani, Gennaro Bosa and the Clarinet in Nineteenth-Century Naples. In: The Galpin Society Journal, Vol 60, 2007, S. 203–115.
  7. Fredidano Sebastiani: ’’Methodo per clarinetto’’. Napoli 1855. Zitiert nach Ingrid Elizabeth Pearson[5]: „Ferdinando Sebastiani, Gennaro Bosa and the Clarinet in Nineteenth-Century Naples“. In: The Galpin Society Journal, Vol 60, 2007, S. 209
  8. Gaetano Labanchi[6]: Metodo Progressivo per Clarinetto. Napoli 1886, S.2 Stand 25. Juli 2014,
  9. In Albert Rice: Clarinet Fingering Charts, 1732-1816, p. 20 und 39. The Galpin Society Journal Vol. 37 (Mar., 1984), pp. 16-41
  10. Hyacinthe Klosé: Méthode pour servir á l'enseignement de la clarinette : á anneaux mobiles, et de celle á 13 clés. Meissonnier, Paris 1843
  11. Prospère Mimart: Méthode nouvelle de clarinette théorique et pratique... . Enoch, Paris 1911.
  12. Frédéric Berr: Traité complet de la clarinette a quatorze clefs; manuel indispensable aux personnes qui professent cet instrument et à celles qui l'étudient. Duverger, Paris 1836.
  13. 13,0 13,1 Carl Baermann: Vollständige Clarinett-Schule: von dem ersten Anfang bis zur höchsten Ausbildung des Virtuosen; Ertser Theil Op.63 S. 5. Johann André, Offenbach/Main 1861 Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „Baermann“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.

Literatur

  • Adriano Amore: Ferdinando Sebastiani (1803-1860) und die Neapolitanische Klarinettenschule. rohrblatt, Juni 2008, S.58-59
  • Collin Lawson, Ingrid Pearson:[8]The Early Clarinet: A Practical Guide. Cambridge University Press, 2000.
  • Eric Hoeprich[9]: The Clarinet. Yale University Press, 2008.