Interview mit BMus (musicology) Robert Pickup, Soloklarinettist Philhamronia Zürich

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Das Interview mit Robert Pickup fand am 9. Oktober 2014 in Zürich statt.

Didaktischer Kanon

Heinrich Mätzener (HM): Robert, empfiehlst du deinen Studenten ein tägliches Einspielprogramm oder erarbeitest du die Parameter der Grundtechnik im Unterricht je nach Bedarf, d.h. anhand des aktuellen Literaturstudiums?

Robert Pickup (RP): Ich denke, dass ein tägliches Einspielprogramm sehr sinnvoll ist und gezielt das Staccato und die Zungenartikulation im Allgemeinen, das Legato, die Tonbildung und die Fingertechnik fokussieren sollte.

Artikulation

HM: Könntest du ein Beispiel einer Einspielübung zeigen und erläutern?

RP: Für die Artikulation empfehle ich meinen Studierenden folgende Übung: (RP spielt je einen Viervierteltakt lang halbe Noten, dann Viertel, Achtel, Triolen, Sechzehntel, Quintelen und Sextolen. Maximales Tempo: Viertel = MM 100.) Es ist ein Muskeltraining für die Zunge. Die Übung hat folgende spieltechnische Zielsetzungen:

  1. Sensibilisierung der Stelle, an welcher die Zunge das Blatt berührt.

Die Zungenspitze berührt das Blatt am obersten Rand, quasi punktförmig. Es ist möglich, das Blatt mit einer Stelle gleich unter der Zungenspitze, ein wenig auf der Unterseite der Zunge, zu berühren. Das Blatt sollte nie mit einer grösseren Fläche und nie mit dem Zungenrücken berührt werden.

  1. Sensibilisierung der Kraft, mit der die Zunge das Blatt berührt.

Die Zunge darf das Blatt nur mit geringstem Druck berühren. Es ist sogar möglich, dass das Blatt auch während dem Kontakt mit der Zunge weiterschwingt und, bei fortdauernder Luftführung, einen gedämpften Ton produziert.

  1. Aufwärmen und Fitness des Zungenmuskels. Das tägliche Training des Zungenmuskels ist nötig um folgende Fertigkeiten zu lernen und mit den entsprechenden musikalischen Zielsetzungen zu verbinden:
  2. Unabhängigkeit von Luftführung und Zungenbewegung.

Es ist bei jeder Artikulationsart essentiell, Luftführung und Zungenbewegung unabhängig voneinander steuern zu können. Man muss lernen, mit der Zunge lediglich die Schwingung des Blatts zu unterbinden, während die Luftführung und die Atemstütze bei der Tonunterbrechung weiter aktiv bleiben.

Diese spieltechnischen Fähigkeiten ermöglichen die Arbeit an folgenden musikalischen Zielsetzungen

  1. Die musikalische Präzision des Toneinsatzes; dies bedingt instrumentaltechnisch feinste Dosierung der Kraft, welche die Zunge auf das Blatt ausübt.
  2. Die Geschwindigkeit des Staccatos; dies bedingt eine grosse Agilität der Zunge.
  3. Ausdauer der schnellen Bewegung: Schnelles Staccato in grösseren Tongruppen verlangt tägliches Training. Bleibt dieses aus, lassen sich schnelle Staccati nur in kleineren Tongruppen realisieren. Die Länge der Tongruppen muss progressiv gesteigert werden.

Übung Zungenartikulation

Um dies zu üben, lasse ich Töne im tiefen Chalumeauregister spielen. Die Töne müssen also mit Kontakt der Zugenspitze an der Blattspitze hervorgebracht werden. Dabei wird der richtige Kraftaufwand in [Ansatzdruck], Luftdruck und Luftquantität getestet.

  1. Sensibilisierung des Luftdruckes, der je nach Art des Staccatos zu erzeugen ist.
  2. Wird ein kürzeres Staccato verlangt – d.h. bei gleichbleibendem Notenwert des geschriebenen Satccatotones verkürzt sich der Klang und erweitert sich der Zeitraum, in welchem die Zunge das Blatt berührt - benötigen wir einen etwas höheren Luftdruck. Luftdruck und Zungenaktivität stehen in gegenseitiger Wechselwirkung.

Atemstütze und Luftführung

HM: Du hast bei diesen Erklärungen mehrmals von ''erhöhtem Luftdruck'' gesprochen. Kannst du erläutern, wie du das Spielen mit diesem erhöhten Luftdruck den Schülern instruierst? Könnte man hier auch von Atemstütze sprechen?

RP: Beim Thema Luftführung ist es wichtig, sich mit den beiden Grössen Luft-Quantität und Luft-Druck auseinander zusetzten. Viele renommierte Lehrpersonen geben die Anweisung, ''blow, blow!!'' oder ''blow as much as you can!!'' Ich beobachte auch immer wieder Studierende, die meiner Meinung nach mit relativ zu viel Luftmenge und relativ zu wenig Luftdruck [Atemstütze] spielen. Daraus resultiert ein wenig fokussierter, geräuschhafter Klang [siehe auch Frédéric Berr,1836].

Übung für die Luftführung/Atemstütze

HM: Wie vermittelst du praktisch die Fähigkeit, hier die richtige Balance zu finden? Macht es Sinn, sich mit Übungen ohne das Instrument zu beschäftigen, um sich das richtige Körperbewusstsein und die nötige Kontrolle über die Atmungsaktivitäten anzueignen?

RP: Es ist auf jeden Fall sinnvoll, auch ohne das Instrument zu üben (RP. demonstriert eine Übung): Ich atme ein und atme die Luft auf einem leisen, konstant hörbaren „s“ aus. Die Konsonant-Formung „s“ soll dabei den [möglichst geringen] Ansatzdruck imitieren, die Übung dient dazu, die Luft kontrolliert in einem langsamen und konstanten Strom, der fast stehen bleibt, zu führen. (Beobachtung: Das „s“ ist als sehr leises, dynamisch ruhig geführtes Geräusch wahrnehmbar. RP. Steht dabei in betont aufgerichteter Haltung, die Schultern sind entspannt, der Brustkorb bleibt dabei weit geöffnet, ohne im Verlauf der Übung einzusinken).

Luft-Quantität und Luft-Druck

RP: Mit dem Instrument lässt sich das richtige Verhältnis von Luft-Quantität und Luft-Druck [Atemstütze] im oberen Klarinregister sehr gut demonstrieren. Spiele ich ohne den notwenigen Druck [fehlt die nötige Stütze], klingt bei einem gegriffenen h’’ ein Ton im unteren Register mit [das h2 wird „unterblasen“]. Es ist also essentiell, Luftdruck und Luftmenge unabhängig voneinander kontrollieren zu können. Ich kann aber auch bewusst mit zu viel Luft und zu wenig Druck spielen (spielt ein Thema eines Jazz Standards). Es gibt also nicht a priori ein „richtig“ oder „falsch“, vielmehr ist je nach aktuellem Stil eine etwas „luftige“ oder mehr „zentrierte“ Tongebung passend.

Allgemeine Körperhaltung

HM: Ich beobachte, dass du beim Demonstrieren dieser Beispiele eine betont aufrechte Haltung einnimmst. In historischen Unterrichtswerken ist wenig über die Thematik Luftführung oder Atemstütze zu finden. Alle Autoren unterstreichen jedoch die Wichtigkeit einer aufrechten Haltung.

RP: Das erachte ich auch als sehr wichtige Anweisung! Die aufrechte Haltung ist Voraussetzung für ein gutes klangliches Resultat. Häufig beobachte ich Studierende, deren Sternum [Brustbein] im Moment des Toneinsatzes und im weiteren Phrasenverlauf stark einsinkt. Gleichzeitig ist ein Einknicken der Halswirbelsäule [von hinten nach voerne]zu beobachten. Das Gegenteil sollte trainiert werden! (RP. Setzt seine Klarinette mit dem Becher auf das Burstbein auf und kommentiert: „Während der Ausatmung, also im Verlauf der Tonproduktion soll sich die Klarinette eher aufrichten und nicht, wie es häufig zu beobachten ist, sich mehr und mehr nach unten richten!“)

HM: Das Aufrichten des Sternums während der Ausatmung scheint mir ein sehr guter Ansatzpunkt, die optimale Haltung zu vermitteln und dadurch den Klang zu optimieren. Gibt es auch den Zugang über das Bewusstsein, wie und in welcher Form sich die Halswirbelsäule präsentiert? Ich denke, dass es von Vorteil ist, sich vorzustellen, die Halswirbelsäule strecke sich beim Toneinsatz nach oben.

RP: In der Alexandertechnik habe ich – ich bin selber nicht Alexandertechniklehrer - gelernt, den Bereich des Nackens sehr locker zu halten und auf dieser Lockerheit eine gute Haltung aufzubauen. Zum vornherein einfach die Halswirbelsäule strecken, könnte die Gefahr in sich bergen, sich dabei [im Bereich des Kehlkopfes] zu verspannen. Am meisten Erfolg scheinen mir Anweisungen zu haben, die in Bildern sprechen. Ein schönes Bild, das ich aus dem Unterricht mit Mark Webster (Lehrer für Alexandertechnik) mitgenommen habe, möchte ich hier wiedergeben: Zuerst locker und tief einatmen. Dann bei der Ausatmung, also während der Tonproduktion, den Luftstrom imaginär wie ein Springbrunnen (jet d’aux) von den untersten Partien des Beckens der Wirbelsäule entlang nach oben bis zum Punkt zwischen den Augen (die "Wirbelsäule" endet nicht beim obersten Halswirbel!) nach oben führen. Der Kopf bewegt sich auf diesem Wasserstrahl so leicht wie ein Pingpongball: locker und agil.

HM: Das ist ein sehr schönes Bild! Es inspiriert auch dazu, den Luftstrom nicht aus dem Rachen in gerader Richtung zum Ansatz zu leiten, sondern die Luft entlang dem Gaumen in Bogenform bis zum Ansatz zu führen.

Fingertechnik

HM: Könntest du uns noch einige Anweisungen zum Thema Fingertechnik weitergeben?

RP: Zuerst eine allgemein Bemerkung zur Fingerbewegung, die ich für alle Stufen, vom Anfänger bis zum Profispieler als sehr wichtig erachte: es ist von grossem Vorteil, die Fingerbewegungen als möglichst kleine Bewegungen auszuführen [siehe auch Frédéric Berr]. Bei geöffneten Tonlöchern liegen die Finger immer in geringer Distanz direkt über den Tonlöchern, die ihnen „zugeordnet“ sind. Die Finger lassen sich ohne Umwege direkt in die Schliessposition bringen. Für Anfänger ist dies wichtig, damit die Tonlöcher sicher getroffen werden, für den Profi ist es Voraussetzung, die Bewegungen unterschiedlich, je nach musikalischem Kontext auf differenzierte Art ausführen zu können. Ich liebe es – bei vielen Abstufungen - grundsätzlich zwischen zwei Arten von Fingerbewegungen zu unterscheiden: einer Bewegungsart, die ich „Legatofinger“ nennen möchte, und einer „artikulierende Fingerbewegung“, die ich für virtuoses Spiel verwende. Es ist dabei so, als würde ich, ohne mit der Zunge die Musik auszusprechen, eine Passage mit den Fingern artikulieren. (RP. demonstriert beide Arten der Spielweise in den Sechszehntelfiguren des Beginns der Figaro Ouvertüre. Das Spiel mit „Legatofingern“ passt hier weniger gut, es ergibt sich ein eher zu weiches, wenig geschärftes Klangbild, das nicht zur musikalisch-spannungsvollen Aussage der Passage passt. Technisch setze ich die „Legato-„ und die „artikulierenden Finger“ wie folgt um:

Die Fingerbewegung bei den “Legatofingern“ entspringt dem Finger Grundgelenk. Bei dieser Art der Bewegungsausführung bleiben die Finger in eher geringer Grundspannung. Im Gegensatz dazu betonen die Bewegungen „artikulierende Finger“ das Bewusstsein auf den Kontakt der Fingerkuppen mit dem Instrument. Durch diesen Aufmerksamkeitsfokus stabilisiert sich die gebogene Form der Finger deutlicher. Das Zusammenwirken von biegenden und streckenden Muskelgruppen tritt stärker in Aktion, die Finger sind stabilisiert und treffen etwas härter auf das Instrument auf.

Zusätzlich lässt sich folgendes demonstrieren: RP. balanciert die Klarinette in waagrechter Lage mit der linken Hand, die rechte Hand (senkrechte Pfeile) übt abwechselnd eine kleine Druckbewegung von oben auf den Becher aus oder hebt das Mundstück von unten, und erzeugt dadurch in einem Hebel Druck auf die untere Seite des Bechers („Druckpunkt“, als Kreis dargestellt).

Druck von unten auf das Mundstück erzeugt Druck durch Hebelwirkung auf den Becher

Der Druckpunkt wird unterschiedlich wahrgenommen, je nachdem ob am Becher auf die Klarinette Druck nach unten, oder beim Mundstück Druck nach oben ausgeübt wird. Der Druck von oben auf den Becher würde der Situation „artikulierende Finger“ entsprechen, der Druck von unten auf das Mundstück bildet die „Legatofinger“ ab.

Ein Möglichkeit, beide Fingerbewegungen in fliessendem Übergang von „Legatofinger“ bis zu „artikulierende Finger“ anzuwenden, bietet sich in Mozarts Klarinettenkonzert A-Dur, KV 622, Takte 100 bis 103.