Interview mit Univ. Prof. Mag. Gerald Kraxberger, Anton Bruckner Privatuniversität, Linz
Das Interview mit Gerald Kraxberger wurde am 25. Mai 2015 anlässlich eines Meisterkurses an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen geführt.
Didaktischer Kanon
HM: Verfolgen Sie einen Unterrichtsstil, der das musikalische Arbeiten in den Mittelpunkt stellt und der, den Anforderungen der Literatur folgend, das technische Knowhow vermittelt? Oder arbeiten Sie während des Curriculums kontinuierlich mit spezifischen Übungen an den technischen Parametern des Klarinettenspiels, um darauf aufbauend das Repertoire zu erarbeiten?
GK: Je nach Einstiegslevel arbeite ich gerne an den Grundpfeilern wie Ansatz und Tonbildung. Ich versuche dann, den Zugang zum Instrument im weitesten Sinne über das Körperbewusstsein zu vermitteln, um darauf aufbauend die passenden Stücke aus der Literatur zu erarbeiten. Ich möchte vermeiden, dass gewisse Probleme der Grundtechnik während eines ganzen Studiums mitgeschleppt werden. Es darf z.B. nicht sein, dass die Françaix-Variationen auf dem Programm stehen, jedoch bei den Bindungen in der dritten Oktave immer wieder dieselben unlösbaren Probleme auftauchen. Deshalb arbeite ich an den Themen der Grundtechnik gerne kontinuierlich und mit nachhaltigen Methoden. Wenn jemand kommt und sagt: „Spielen wir heute Mozartkonzert oder Brahmssonate?“, dann ist das in Ordnung. Aber wenn ich nach drei oder vier Wochen nur Literatur höre, fängt es an zu kribbeln. Dann verlange ich wieder ganz einfache Legatoübungen.
Schulung des Körperbewusstseins
HM: Sie haben neben der Arbeit an Ansatz und Tonbildung auch die Schulung des Körperbewusstseins erwähnt...
GK: Das Bewusstwerden der kinästhetischen Abläufe beim Musizieren und die Fähigkeit, diese jederzeit reproduzieren zu können, scheint mir sehr wichtig. Das Entwickeln einer Sensibilität für die körperliche Durchlässigkeit (siehe auch Wikipedia: Gesangspädagogik ) ist letztendlich viel wichtiger, als stundenlanges Üben. Ein sehr häufig genutzter Satz in meinem Unterricht ist: „Spiel dass bitte noch einmal und beobachte dich ganz genau: Wie fühlt sich das an?“ Es geht nicht nur darum, dass die Studenten eine Herausforderung meistern können - das ist wunderbar - sie müssen auch lernen, sich dabei genau zu beobachten und zu wissen, wie sich etwas anfühlt. Ich habe bei mir persönlich mit der Feldenkraismethode sehr gute Veränderungen bewirken können. Hier werden spezifisch Körperbewusstsein und Durchlässigkeit geschult. Im Unterricht verwende ich den Balance-Kreisel, er gehört für mich zur Grundausstattung. (Siehe auch Interview mit Ernst Schlader, Körperspannung).
Körperliche Durchlässigkeit und musikalische Gestaltung
GK: Damit fange ich mit den Studenten im Alter von 14 bis 16 Jahren an. Da hat man noch Zeit, das Körperbewusstsein zu entwickeln. Dabei versuche ich auf die individuellen Voraussetzungen der Schüler einzugehen: Die einen sind sehr „hochatmig“, bei den anderen muss ich es von den Händen aus angehen, weil sie sich bei fingertechnischen Aufgaben schnell verkrampfen. Immer wieder lässt sich eine Verbindung zwischen einer „steifen Musikalität“ und grundtechnischen Parametern, die nicht körperlich durchlässig beherrscht werden, beobachten. So kann auch über die Musikalität keine Gestaltung in das Spiel einfliessen; Das Gespür für eine schöne viertaktige Phrase kann sich nicht einstellen.
Lockerheit kontra Spannung
HM: Wie gehen Sie allgemein mit dem Begriff "Spannung" um?
GK: Was ich gar nicht mag: Den Begriff „locker“. Jedes Instrumentalspiel braucht genau so viel Spannung wie notwendig. Wenn ich die Klarinette zu locker halte, fällt sie runter und geht kaputt. Die Frage ist: Krieg ich ein Gefühl dafür, wie viel Spannung notwendig ist? Wenn ich eine Stelle in der dritten Oktave spiele, werde ich etwas fester anpacken, ich brauche dieses Gefühl von Sicherheit, das werde ich mir auf dem Podium sicher nicht wegnehmen. Wenn es auf einer Bergtour rechts 200 Meter tief runter geht und links ein Seil da ist, dann werde ich mich mit der linken Hand etwas fester daran halten. So ähnlich sehe ich es mit dem Klarinettenspiel. Es braucht soviel Kraft und Spannung, wie es die jeweilige Situation erfordert. Es geht darum, ein Bewusstsein zu schaffen, wie viel [Spannung] es braucht. Im tiefen Register kann ich wieder mit weniger Spannung spielen.
Grundtechnik
Unterrichtsmaterial Grundtechnik
HM: Welches Unterrichtsmaterial verwenden Sie für die Grundtechnik? Arbeiten sie mit einem bestimmten Einspielprogramm, das Sie jeweils dem individuellen Stand der Studierenden anpassen?
GK: Aus Wien kommend, war ich mir gewohnt sehr viel Basisarbeit mit Jettel-Studien zu leisten, was ich dann für meinen Unterricht in Linz übernommen habe. Ich arbeite sehr gerne mit Kröpsch und auch mit französischen Etüden, wie Jean-Jean. Mit solchem Material lassen sich Tonbildung und Grundtechnik gut schulen.
Ansatzformung
HM: Welche Muskeln sind bei der Ansatzformung wichtig? Geben Sie den Studierenden bei der Tonbildung bestimmte physiologische Hinweise, wie ein frei schwingender Klang herzustellen ist?
Musculus masseter contra Musculus orbicularis oris
GK: Meiner Meinung nach liegt eine Hauptproblematik bei der Ansatzformung darin, dass die meisten Leute den Kiefermuskel (lat: Musculus masseter) zu stark einsetzen. Korrekt ist aber die Ansatzformung durch die Aktivierung des Ringmuskels des Mundes (lat: Musculus orbicularis oris).
Übung
Diese Übung habe ich mir von einem Saxophonisten abgeschaut, der beim Unterrichten immer wieder die Aktivierung des Ringmuskels des Mundes wie folgt kontrolliert hat: Spielt man mit dieser Technik auf dem Mundstück – oder auf dem Mundstück mit Birne, um es besser halten zu können – resultiert je nach Ansatzformung eine höhere oder tiefere Intonation. Bei zu starkem Anteil der Kiefermuskulatur ist der Ton deutlich zu hoch. Das muss man korrigieren, indem man den Ansatz mit der Ringmuskulatur des Mundes formt (siehe auch Interview mit Ernst Schlader, Übungen, anstatt auf das Mundstück zu beissen. Es resultiert eine deutlich tiefere Tonhöhe, bis zu einer Terz. Abweichungen von ¼ Ton höher oder tiefer spielen dabei keine Rolle. Wichtig ist, dass auf diese Weise die Ringmuskulatur des Mundes trainiert wird.
Vokalformung
HM: Arbeiten Sie auch mit unterschiedlicher Vokalformung, um das Problem des „Beissens“ besser zu kontrollieren?
Rachen, Ausformung des Mundinnenraumes
GK: Schwierig wird es bei einer zu grossen Öffnung des Rachens, wie es manche Saxophonisten und Klarinettisten praktizieren. Dies kommt daher, dass sie eine tiefere Intonation suchen, aber am Anfang nicht zwischen dem vorne im Ansatz platzierten Ringmuskel des Mundes und der Öffnung im Hals-Rachenraum unterscheiden können. Um die Intonation zu vertiefen, wird der Rachen zu stark geöffnet. Das Problem verlagert sich in den inneren und hinteren Teil der Ansatzformung. Man kann bei den Studenten nicht in den Mund hinein schauen. Man hört aber sofort, wenn der Rachen zu geöffnet ist: Es klingt kehlig, hohl, überhaupt nicht zentriert.
HM: Welche Vokalformung empfehlen Sie bei der Tonbildung?
GK: Ich verwende für mich trotzdem gerne das „a“. Aber wenn der Hals zu sehr geöffnet ist, muss man in Richtung des „i“ gehen. Die Zunge hebt sich hinten etwas nach oben. In diese Richtung muss man suchen.
HM: Sind die Vokale je nach Registerlage zu verändern? Empfehlen Sie bei höheren Registerlagen eher einen helleren Vokal?
GK: Es muss jeder für sich selbst herausfinden, was am besten passt. Beim Anbieten von bestimmten Anweisungen, muss sorgfältig beobachtet werden, welcher Effekt hervorgerufen wird. Bei einem Student funktioniert etwas, was bei einem anderen 100%-ig in die andere Richtung führt.
Ansatzlinie bei französischem und deutschem System
HM: Wie bewusst thematisieren Sie die Ansatzlinie? An welcher Linie berührt die Unterlippe das Blatt?
GK: Da wir in Linz zunehmend auch Studenten mit französischem System aufnehmen, muss das thematisiert werden. Beim französischen System wird das Mundstück wesentlich weniger weit in den Mund genommen. Bei der Ansatzformung kommt diese Thematik also dazu.
Anspielwinkel
HM: Es könnte auch eine Verbindung zwischen Ansatz und Haltearbeit gemacht werden. Wird die Haltearbeit gleichzeitig mit der Ansatzformung thematisiert?
GK: Ja. Der Winkel spielt bei der Tonbildung auch eine Rolle, er verändert sich je nach Haltung.
Ansprache
HM: Welche Rezepte können Sie für eine saubere und sichere Ansprache im oberen Klarinregister anbieten?
Balance von Luftführung und Ansatzformung
GK: Zuerst gilt es, sich mit der Problematik der Luftführung im Wechselspiel mit der Ansatzformung auseinander zu setzten.
Übung „Luft auf Ton“
GK: Mein favorisierter Zugang zur Problematik der Ansprache ist folgender: Ich lasse den Ton aus der Luft herholen. So muss z.B. der Ton "h" zuerst nur als Luftgeräusch angeblasen werden. Dann verwandle ich dieses Luftgeräusch durch progressive Aktivierung des Ringmuskels des Mundes in den Ton.
Jeder Studierende muss diese Übung beherrschen. Er muss das Gefühl und die Körperspannung, die sich in dem Moment einstellt, in dem der Klang aus der Luftströmung hervortritt, genau kennen und jederzeit abrufen können.
Beim Erklingen eines Multiphonics, dieses „Kratzers“ anstelle der reinen Tonhöhe, fehlt das Verständnis für die richtige Luftgeschwindigkeit mit dem dazu passenden Druckpunkt in der Ansatzformung. Diese Übung macht erlebbar, was zu tun ist, um den Ton direkt ansprechen zu lassen. Es geht nicht darum den Hals zu öffnen, sondern durch die anfangs hörbar gemachte Luftströmung das richtige Verhältnis zwischen Ansatzformung durch Aktivierung der Ringmuskulatur und die dazu passende Luftführung durch die Atmungsmuskulatur zu finden.
Wenn Jemand z.B. eine Quintenreihe vorspielt, ohne eine kontinuierlich zugrundeliegende Luftströmung, ist das sofort in den nebenbei auftretenden „Kratzern“ hörbar. Dann verlange ich, dass wieder das Luftgeräusch zwischen die Töne geschoben wird. Erst wenn das realisiert werden kann, und die Quinten wieder ohne „Kratzer“ ansprechen, darf „normal“ weiter gespielt werden. Zuerst muss das richtige Gefühl für die Luftführung wieder präsent sein. Vorher gibt es ein Verbot, weiter zu spielen. Denn alles was wiederholt wird, prägt sich ja ein. Egal ob es nun richtig ist oder nicht. Man darf sich nicht wundern, wenn nach unsorgfältigem Üben diese Bindungen in der Praxis dann nicht funktionieren. Dies wäre ein Hinweis darauf, dass die Technik noch zu wenig gut verankert ist.
HM: Wie kann man zusammenfassend den Hauptfehler des „Kratzers“ benennen?
GK: Der Hauptfehler ist ein Missverhältnis zwischen Ansatzdruck und Luftgeschwindigkeit: Zu grosser Ansatzdruck („Beissen“) und zu kleine Liftgeschwindigkeit äussern sich in diesen „Kratzern“.
Blatt
GK: Ein zusätzlicher, wichtiger Faktor ist die Qualität des Klarinettenblattes. Dazu gehört ein generelles Verständnis dieser Materie. Es reicht nicht, Blätter nur zu kaufen. Das Thema Blattbau begleitet uns im Verlauf eines Studiums. Es beinhaltet vom Equipment einer Blattkopiermaschine bis zur Aneignung des Wissens über Holzqualität und Ausmasse der Blätter auch das Lernen der Fertigkeiten, Blätter zu bearbeiten und selber zu bauen.
Didaktische Werkzeuge
Vorspielen
HM: Ziehen sie das didaktische Werkzeug des Vorspielens einer analytischen Beschreibung aller beteiligten Bewegungsabläufe und Muskelspannungen vor? Ziel beider Methoden ist das Koppeln der Klangvorstellung mit den spezifischen, muskulär gesteuerten Einstellungen der Ansatzformung und des Atemapparats.
GK: Ich habe beim Unterrichten immer das Instrument dabei. Oft ist Vorzeigen besser anstatt langes Reden.
„Arbeitssprache“
HM: Es gibt heute an den Musikhochschulen eine Tendenz, alle instrumentalen und musikalischen Lernfelder auch sprachlich erfassen zu müssen...
GK: Ich versuche für die Studierenden eine Arbeitssprache zu entwickeln, die durch zusammenfassende Begriffe eine schnelle Verständigung herstellen kann. Ich habe für die oben beschriebene Übung den Titel „Luft auf Ton“ kreiert. So kann während der gemeinsamen Arbeit je nach Bedarf auf das Verhältnis zwischen Luftgeschwindigkeit und Ansatzdruck hingewiesen werden. Der Student weiss dann sofort, worauf er seine Aufmerksamkeit zu richten hat.
Körperarbeit
HM: Die Begriffe Luftgeschwindigkeit und Atemstütze tangieren den Bereich der Körperarbeit. Wie arbeiten Sie in diesem Bereich nebst der bereits erwähnten Anwendung des Balance-Kreisels?
Sensibilisierung und Prophylaxe
GK: Ich habe das Glück, dass ich in meinem Bekanntenkreis einen Tanzlehrer habe, der Zusatzausbildungen in Physiotherapie, Feldenkrais, Alexandertechnik hat und weitere Techniken der Körperarbeit kennt. Ihn lade ich immer wieder ein, Impulsvorträge für das anatomische Verständnis zu halten sowie die Studierenden für die Bedeutung der Körperarbeit zu sensibilisieren. Die Anweisungen des Physiotherapeuten dienen dazu, dass die Studenten ein gutes Körperbewusstsein für das Klarinettenspiel entwickeln.
Sollten aber anhaltende Schmerzen beim Üben auftreten, schicke ich die Leute sofort zur physiotherapeutischen Untersuchung. Ohne den notwendigen Aufbau einer guten körperlichen Disposition, lehne ich ein Musikstudium sogar ab. Sobald Jemand bei mir das Studium aufnimmt, verlange ich, dass derjenige sich mit seiner körperlichen Fitness auseinandersetzt.
Atemübungen?
Auch einen Lungenfunktionstest halte ich für sinnvoll. Da kommt die Frage auf, ob Atemübungen überhaupt sinnvoll sind. Sie sind sinnvoll, wenn ich sie direkt für die Arbeit mit meinem Instrument einsetzen kann. Ich besuchte einmal einen Kurs „breath-control“ mit Atem-Übungen. Dann hatte ich aber das Gefühl, dass meine Atmung immer verkrampfter wird. Das war dann kontraproduktiv. Aber das Verständnis für den Körper muss das sein.
Atemstütze
HM: Welche Hinweise geben Sie Studierenden, um mit einer guten Atemstütze zu spielen?
GK: Kurz zusammengefasst denke ich, dass die Leute im Bereich der Bauchmuskulatur und in der Zwischenrippenmuskulatur d.h. im Brustkorb sehr oft zu viel Kraft einsetzen.
HM: So entsteht zu viel Ausatmungsschub, der dann vom Ansatz nicht aufgefangen werden kann...
GK: Der Brustbereich wird sehr steif, es entsteht ein unangenehmer Rückstau von Luft. Die Auswirkungen auf den Ansatz sind sehr ungünstig.
Fingertechnik
Daumen rechte Hand
HM: Zu den drei Grundpfeilern Ansatz, Haltung und Atmung ist ein vierter Parameter dazugekommen: Hand, Haltearbeit und Fingertechnik. Können Sie praktische Hinweise dazu geben, was hier aus physiologischer Sicht zu beachten ist?
GK: Ich empfehle als Erstes, den Daumenhalter grundsätzlich möglichst hoch zu montieren. Wenn Jemand den Daumen nach hinten klappen kann, muss er den Daumenhalter anders einrichten, wie ich. Wenn ich bei der Haltearbeit eine Position einnehme, in der sich der Daumen zu weit nach aussen biegen muss, geht der Daumen kaputt.
HM: Der Daumen der rechten Hand nimmt eine Schlüsselposition ein. Er trägt hauptsächlich das Gewicht der Klarinette, darf aber durch seine Halte-Funktion den Rest der Hand nicht in eine übermässige Spannung versetzen. Sollte sich die Position des Daumens auch nach der jeweiligen musikalisch-fingertechnischen Situation richten können?
GK: Unbedingt. Der Daumen muss grundsätzlich in einer guten, körpergerechten aber veränderbaren Position unter der Daumenstütze platziert sein.
Fingergeläufigkeit und Kraft
GK: Je nach der individuellen Handgrösse, verlangt die Fingertechnik auch mehr oder weniger Kraftaufwand.
HM: Machen Sie separate Kraftübungen für die Hände, oder muss in erster Linie der Rücken gekräftigt werden? Wo würden Sie bei einem Krafttraining ansetzen?
GK: Über die Arbeit mit dem Physiotherapeuten. Man sollte insbesondere die Haltung vorne im Schulterbereich sorgfältig beobachten. Man muss aufpassen, dass man bei einem Training nicht diejenigen Muskeln stärkt – und damit eventuell verkürzt – die ohnehin das Problem sind. Es ist wichtig, dass die Muskeln immer im Wechselspiel mit ihren Gegenspielern trainiert werden. Ein sportliches Training muss durch ein Grundwissen getragen sein, welches auf einen ausgeglichenen Muskelaufbau hinsteuert. Einseitiges Krafttraining muss vermieden werden.
HM: Für eine gute Fingertechnik müssen Beuger und Strecker gleichzeitig aktiv sein, um die nötige Agilität zu erreichen...
GK: Das zeigt sich besonders beim Triller: Hier ist das Öffnen, die Bewegung vom Instrument weg, genau so wichtig, wie das Schliessen der Tonlöcher und Klappen.
Staccato
Staccato als musikalische Grösse
HM: Die Geschwindigkeit des Staccatos und die Sauberkeit der Artikulation stellen für viele Klarinettisten eine grosse Herausforderung dar. Ergibt sich eine gute Staccato-Qualität aus der richtigen Vorarbeit durch Ansatz und Luftführung?
GK: Die Arbeit am Staccato darf sich nicht nur an technischen, sondern muss sich unbedingt auch an musikalischen Zielsetzungen orientieren. Die Artikulation ist eine wichtige Komponente der Interpretation und beinhaltet eine sprachliche Komponente. Das Anspielen der Töne in einer Brahms-Sonate bedeutet etwas anderes als in der Denissow-Sonate. Die Artikulation muss dem Stück angepasst werden. Deshalb muss man das Thema Artikulation in seiner Vielfältigkeit angehen. Das andere wäre dann einfach Sport. Der Schnellste gewinnt!
Zungenspitze an Blattspitze?
HM: Und wie gehen Sie die technische Umsetzung an?
GK: Irgendwie konnte ich für mich bis heute nicht klären, ob es immer die Zungenspitze ist, welche die Blattspitze berührt. Bei mir ist es definitiv nicht die Zungenspitze, bei mir liegt die Zungenspitze hinter dem Zahnbogen und kippt zum Blatt hin.
HM: Hat die Zunge dadurch mehr Stabilität und lässt sich dadurch die Bewegung besser steuern?
GK: Ich habe das schon als kleiner Bub so gemacht. Wenn ich probiere, mit der Zungenspitze am Blatt zu artikulieren, klingt das wie bei einem Anfänger. Furchtbar. Ich weiss nicht, was ich mit dieser Technik anfangen soll.
Form und Bewegungsablauf der Zunge
GK: Während meines Studiums in Wien kam ein Studienkollege ganz bleich aus dem Unterricht. Er war verzweifelt weil Professor Schmidl ihm gesagt habe, er mache beim Staccato alles falsch. Die Zunge müsse die Form einer "Schaufel" einnehmen und die Blattspitze müsse nur mit der Zungenspitze berührt werden. Bei ihm sei alles falsch, er müsse alles umlernen. Ich antwortete ihm: „Prof. Schmidl hat dir in den Mund schauen können? Ich kann dir nur sagen, falls es dich beruhigt, ich mache es garantiert nicht so und ich werde meine Technik nach 12 Jahren Studium nicht umstellen. Ich versuche einfach, meine Methode zu perfektionieren.“ Ich hörte von einer Studie, in der die Staccato Technik von drei führenden Klarinettisten aus Berufsorchestern mit MRI-Aufzeichnung untersucht wurde: Bei jedem der drei Klarinettisten sah die Technik anders aus.
Berührungspunkt der Zunge am Blatt
HM: Man kann, neben dem Berührungspunkt auf der Zunge, auch die am Blatt berührte Stelle beschreiben.
GK: Ich berühre die Blattspitze, den Rand des Blattes.
Doppelzunge
HM: Lässt sich ihre Technik gut mit der Doppelzungen-Technik kombinieren?
GK: Mein erster Lehrer war noch der Meinung, dass die Doppelzunge bei der Klarinette nicht funktioniert. Heute muss man zugeben, dass diese Aussage nicht stimmt. In der hohen Lage bleibt die Technik schwierig. Ich bin dazu übergegangen, Doppelzunge zu instruieren. Ich rate den Studierenden, sich mit dieser Technik zu beschäftigen. Man gewinnt dadurch an Flexibilität. Obwohl ich nicht viel von den exzessiven Ausdauer-Staccato-Etüden halte, bin ich sicher, dass man auf der Klarinette unbedingt ein gutes Staccato mit einfacher Zunge lernen muss. Kürzere Passagen hinsichtlich Kraft und Schnelligkeit im Sinne eines soliden Bewegungsablaufes zu üben, das befürworte ich. Aber seitenweise Staccato-Etüden zu spielen, finde ich entsetzlich. Ich kam selber noch aus dieser Schule, ich bin ein gebrandmarktes Kind. Wenn ein Muskel überfordert wird, macht er zu. Da die Zunge auch ein Muskel ist, muss man darauf achten.
Klarinettistische Tradition
Heinrich Mätzener: Bei welchen Lehrern haben Sie studiert und nach welcher klarinettistischen Tradition wurden Sie unterrichtet?
Gerald Kraxberger: Ich begann mein Studium parallel zu einem Musikgymnasium in Linz bei Prof. Karl Maria Kubizek. Er hat zeitlebens eine fantastische deutsche Wurlitzer-Klarinette gespielt, verwendete aber ein Mundstück mit langer, enger Bahn, entsprechend der Wiener Tradition. In Linz wurde sonst praktisch nur die Hammerschmidt Klarinette aus Wattens in Tirol verwendet. Dies lässt sich eindeutig mit der Tradition des Wiener Klangstils verbinden. Ich war sechs Jahre am Linzer Konservatorium. Nach einem Jahr im Militärdienst ging ich nach Wien zu Prof. Peter Schmidl und lernte dort fünf Jahre in seiner Klasse.