Paolo Beltramini: Unterschied zwischen den Versionen
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
||
Zeile 76: | Zeile 76: | ||
[[Kategorie:Clarinet-Didactics-Autoren|Interview mit Beltramini Paolo]] | [[Kategorie:Clarinet-Didactics-Autoren|Interview mit Beltramini Paolo]] | ||
[[Kategorie:Deutsch|Paolo Beltramini]] | [[Kategorie:Deutsch|Paolo Beltramini]] | ||
[[Kategorie:Interviews|Paolo Beltramini]] |
Version vom 16. Mai 2018, 14:38 Uhr
Das Interview mit Paolo Beltramini wurde am 10.Juni 2015 auf Dreilinden, Hochschule Luzern - Musik von Heinrich Mätzener geführt, übersetzt und transkribiert.
Didaktischer Kanon
HM: Arbeitest du mit den Studierenden anhand eines Einspielprogramms, das die verschiedenen Parameter der Grundtechnik beinhaltet?
PB: Ja. Das Einspielprogramm soll folgende Bereiche abdecken:
- Tonbildung
- Staccato, Fingertechnik
- Tonleitern und Akkordstudien
Die Grundlage für alles bildet die Tonbildung. Erst dann kann am Staccato gearbeitet werden, natürlich auch ein wichtiger Parameter.
Tonbildung ist das Wissen, wie ich die Luft ins Instrument hineinbringe und wie ich den Klang erzeuge. Geübt wird mit ausgehaltenen Tönen, mit messa di voce, ( p < f > p ), was sich auch auf die Duodezimübung übertragen lässt. Das Legato Grundton-Duozime lässt sich auch in weiteren dynamischen Variationen arbeiten ( z.B. f > p ˘ p < f ). Bei allen Tonübungen muss ein Metrum vorhanden sein, man spielt dann z.B. zwei Zeiten crescendo, zwei Zeiten diminuendo. Ohne Metrum haben Tonübungen keinen Sinn. Musik hat immer Tempo und Rhythmus, das muss schon bei den langen Tönen geübt werden. Häufig spielen Studenten bereits virtuos, aber sie können das Tempo nicht halten.
Das Staccato arbeite ich dann im Zusammenhang mit Tonleiter- und Akkordstudien. Ich nehme dazu immer Baermann, tägliche Studien. Dann schlage ich vor, fürs Staccato auch die Etüden von Kell oder Stark zu arbeiten.
Wenn man beim Üben eine Stunde für die Grundtechnik einsetzt, ist es wichtig, die Zeit entsprechend den einzelnen Parametern aufzuteilen und sich einen Plan zu machen.
Wichtig ist beim Unterrichten, dass diese Hausaufgaben auch immer kontrolliert werden.
Tonbildung
Spielen mit realen und imaginäre Resonanzräumen
Ich sage den Studenten immer, sie sollen sich vorstellen, die Luft bis zum Becher bzw. bis zum ersten geöffneten Tonloch des Instrumentes zu führen. Ich stelle mir dann dabei vor, dass sich die Luft in einem fast stehenden Kreislauf bewegt: sie strömt wie bei der Staccato Übungen ohne Instrument (siehe unten )beschrieben (Winkel nicht zu offen, der Luftstrom wird von der Oberlippe nach unten gerichtet) in die Klarinette, kommt beim Becher heraus und wird von unten wieder in unseren Körper hineingezogen. Dann beginnt der Kreislauf von neuem. In der Vorstellung gibt es dann verschieden Resonanzräume, die mitschwingen. Da ist zum einen unsere Mundhöhle, dann das Mundstück mit dem Blatt, das Instrument, die Räume über den sich öffnenden Tonlöchern oder der Raum beim Becher, schliesslich der ganze Raum in dem wir spielen, und dann der ganze Thorax vom Becken bis zum Brustkorb, den wir imaginär als Resonanzraum einsetzten. All diese Resonanzräume vibrieren gleichzeitig und können je nach Situation stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Das ganze kann nun wieder mit der Übung ohne Instrument kombiniert werden. Die Zunge kommt wieder ins Spiel, wobei die Resonanzräume imaginär bestehen bleiben.
Anblaswinkel
Auch der Anblaswinkel scheint mir dabei wichtig: ich denke es gibt bei der Böhmklarinette - im Gegensatz zur deutschen Klarinette - die besseren klanglichen Resultate, wenn der Winkel nicht zu offen ist.
Luftdruck und Klangprojektion
Diese Übung hilft, den nötigen konstanten Luftdruck aufzubauen. Ohne den würde es nicht klingen, wäre weder Legato noch Staccato möglich. Man kann auch von Projektion sprechen: man projiziert den Klang in die Resonanzräume ausserhalb des Körpers, in den Konzertsaal, in die Räume über dem Instrument, in den Raum rund um den Becher.
Konstante Luftführung bei wechselnder Vokalformung
Die Luft muss bei der Klangproduktion immer eine gewisse Geschwindigkeit haben, ohne diese können wir nicht Klarinette spielen. Es gibt auch immer einen gewissen konstanten inneren Widerstand, ob wir laut oder leise spielen. Je nach Register und Lautstärke wechseln natürlich der Luftdruck, die Luftmenge und die Luftgeschwindigkeit. Wahrscheinlich braucht es beim tiefen Ton mehr und schnellere Luft (singt als Beispiel von oben nach unten: sol1–mi. Er formt den dunkleren Vokal auf g1, den heller Vokal auf e). Die Luft wird mit veränderter Vokalformung, d.h. durch die veränderte Zungenposition beim tiefen Ton schneller. Ich glaube, es ist dann umgekehrt bei den hohen Noten: diese brauchen einen dunkleren Vokal und langsamere Luft.
Atemstütze
Vergleich Akkordeon
Beim Erklären der Atemstütze mache ich gerne den Vergleich mit der Akkordeon. Wenn wir in den Flanken einatmen, ziehen wir quasi den Blasbalg der Akkordeons seitlich auseinander. Die Ausatmung - das Zusammenstossen des Blasbalges – kann langsam oder auch schnell passieren. Es gibt aber beim Ausatmen, so wie beim Stossen des Blasbalges, immer diesen „hydraulischen“ Widerstand, so wie wir ihn beim Akkordeon in den Armen spüren. Das Bild mit dem Akkordeon hilft auch zu verstehen, wie das Zwerchfell funktioniert: Analog zum auseinanderziehen des Akkordeons ziehen wir beim Einatmen die unteren Rippen seitlich auseinander und spannen das Zwerchfell nach unten. Es ist auch wichtig bei einsetzender Ausatmung die Spannung – eben wie beim auseinandergezogenen Balg des Akkordeons – nicht mit einem Male zusammensinken zu lassen. Das geschieht leider oft bei Studenten: sie geben zu viel Ausatmungsschub [mit der Bauchmuskulatur], erzeugen zu hohen Druck auf das Zwerchfell, welches sogleich dieser Ausatmungskraft nachgibt. Sie blockieren sich dadurch den ganzen unteren Resonanzraum.
Vergleich Segelflieger
Ich mache auch gerne den Vergleich mit dem Segelflieger: er fliegt ohne Motor. Wenn er gegen den Wind fliegt, kann er aufgrund der Strömungsgesetze in einem ganz leichten Sinkflug das Gewicht des Flugzeuges in der Luft schweben lassen. Fliegt er mit dem Wind, verliert er schnell an Höhe. Analog dazu würde bei uns der Ton zu früh in sich zusammenbrechen. Der Gegenwind beim Segelfliegen entspricht einer selbst aufgebauten Innenspannung, gegen welche sich die Ausatmungskraft anlehnen kann. Wenn wir ohne dieses sich Anlehnen „Appogio“ spielen, wird das besonders in Situationen mit ungünstiger Raumakustik spürbar. Hier müssen wir selber einen tragenden Klang erzeugen.
Technik und Literaturstudium
HM: Wie verbindest du Technik und Literaturstudium?
PB: Ein Beispiel: der B7-Akkord in der Exposition des Mozart Konzertes: das gibt oft Probleme auf. Dann lasse ich die entsprechenden Übungen in der Baermann Schule, den Dominantseptakkord in allen Variationen, nacharbeiten.
Staccato
HM: Es gibt unzählige Staccato Etüden. Wenn man ohne kundige Anleitung nur die Noten spielt, können viele Fehler passieren, man übt eine schlechte Technik ein. Kannst du den Vorgang des Artikulierens näher umschreiben?
Zungen-Artikulation bei stabiler Ansatzformung und fortgesetzter Luftführung
Übung ohne Instrument
PB: Da kommen mir Andreas Sunden und Yehuda Gilad in den Sinn: sie schlagen eine Staccato-Übung ohne Instrument vor, um die Unabhängigkeit der Zungenbewegung von der Luftführung zu üben.
Ansatz
Man simuliert dabei ohne Instrument den Klarinettenansatz (PB zeigt die Ansatzformung mit dem „Ringmuskel des Mundes“ und mit nach unten gezogenem Kinn und lässt die Luft durch die kleine Öffnung der Lippen als zentrierten Luftstrom austreten). Es ist wichtig, den Luftstrom mit der Oberlippe quasi nach unten zu richten.
Artikulation
Dann verschliesst die Zunge die Lippenöffnung indem die Zungenspitze in rhythmischen Abständen, an die Oberlippe tippt. Die Luftführung wird fortgesetzt, es entsteht dabei ein Gefühl des “sich Anlehnens“ mit der Luft an den verschossenen Ansatz [vgl. Konsonanten-Artikulation in der Gesangspädagogik. Sobald die Zunge zurückgezogen wird, kann wieder Luft ausströmen.
Diese Konstellation lässt sich dann gut auf Stellen aus der Literatur übertragen wie z.B. Carl Maria von Weber, der Beginn des letzten Satzes aus 1. Konzert: die drei auftaktigen Sechszehntelnoten (cis2 d2 g2) sind an das h2 im ersten Takt angebunden. Dieses wird dann durch die Zunge gestoppt, genau gleich wie eben beschrieben. Die Zunge schliesst nun die Öffnung zwischen Blatt und Mundstück, die Luft wird aber dabei weitergeführt. Zieht man die Zunge wieder weg, und wechselt den Fingersatz, erklingt das h1. Das Wegziehen ist vergleichbar mit der Bewegung, welche die Zunge macht, wenn man etwas kleines aus dem Mund ausspucken würde (siehe auch Frédéric Berr).
Klangästhetik
Intonation
HM: Welche Klangästhetik verfolgst du? Carl Baermann beschreibt den Klarinettenton u.a. als „voll, vibrierend, und metallartig“.
PB: Der Ton muss in erster Linie sauber ’’intoniert’’ sein. Wenn du einen schönen Ton hast und mit falscher Intonation spielst, nützt alles nichts. Man muss den Ton immer voraushören, bevor man ihn anspielt. Man hört, wenn jemand das nicht macht. Ich habe keine Probleme damit, ob jemand etwas heller oder dunkler spielt. Das wichtigste ist wirklich eine saubere Intonation.
Klangliche Flexibilität
Dann muss der Klang auch flexibel sein, um sich in verschieden Stilen bewegen zu können. Besonders wenn man zeitgenössische Musik spielt, ist das wichtig. Man muss sich in den Dienst der Komponisten stellen: Da gibt es Aufgaben wie extrem hohe Noten, Flatterzunge, Slap, Mehrklänge. Das muss alles möglich sein. Nur soll dann eine Brahmssonate nicht klingen wie Stockhausen!
Individuelle Disposition, Unterschiede nach Sprachraum
Der Klang wird auch sehr stark von der individuellen Physiognomie des Spielers, insbesondere besonders von der Ausformung der Mundhöhle geprägt. Dann kommt dazu, dass ein „o“ in der italienischen Sprache eine andere Färbung hat wie im Deutschen oder wie in einer skandinavischen Sprache. Dies bringt mit sich, dass sich auch die Klangvorstellungen regional unterscheiden. Die nationalen Schulen bestehen doch noch, auch wenn sie sich einander stark angenähert haben.
Mir ist aufgefallen, bei einer Masterclass in Japan, dass dort alle einen schönen Klang hatten. Das hängt damit zusammen, dass sie in ihrer Sprache die Vokale ausgeprägt rund formen und nicht so viele unterschiedliche Färbungen haben wie wir das in unseren europäischen Sprachen kennen.
Fokus und Projektion
Man hat aber etwas an Identität verloren. Man hört in allen Ländern schöne und weniger schöne Klänge. Am wichtigsten bei all diesem Suchen scheint mir, dass der Fokus des Klanges nie verloren gehen darf. Budini - er war lange erster Klarinettist an der Scala in Mailand, hatte noch unter Toscanini gespielt – konnte keine Staccato Tonleiter spielen! Aber er konnte wunderbare melodische Phrasen spielen, er hatte einen wunderbaren Klang. Er sagte, der Klang müsse hell sein, so wie man es bei Bärmann nachlesen kann! Es gibt ja auch Violinisten mit sehr hellem Klang, aber auch das kann sehr schön sein und unglaublich projizieren! Ein dunkler Klang, ohne Projektion? Das würde ich eher nicht empfehlen.
Tradition: Oper oder Symphonik?
Dann kommt noch etwas anderes dazu. Ich komme aus Italien, einem Land mit einer grossen Operntradition, weniger mit einer symphonischen Tradition. Aus dem Orchestergraben klingt der Ton immer etwas weniger hell wie auf dem Konzertpodium. So kann man sagen, dass bei der ganzen Thematik auch der Konzertort und dessen akustischen Eigenheiten reflektiert werden muss. Ein zu heller Klang auf dem Konzertpodium würde ich nicht empfehlen, im Orchestergraben ist das aber passend. Man kann hier auch ganz leise spielen, nur wie ein Hauch, das hört man. Auf der Bühne muss man mit viel mehr Präsenz spielen.