Haltearbeit
Diese Seite versucht den Zusammenhang zwischen der Haltearbeit und Ansatzformung aufzuzeigen. Aus klanglichen und physiologischen Gründen, sowie aus historischer Sicht macht es Sinn, die linke Hand möglichst oft in die Haltearbeit einzubeziehen.
In vielen Situationen lässt sich durch eine Aufteilung der Gewichtsbelastung auf rechte und linke Hand auch mehr Leichtigkeit in der Fingertechnik erzielen.
Daumenstütze
Die Daumenstütze für die rechte Hand kam erst in Gebrauch, nachdem Iwan Müller um 1812 die Neuerungen im Instrumentenbau vorangetrieben hatte: die neue 13-klappige "clarinette omnitonique" ermöglichte das Spiel in allen Tonarten, die Bewegungsabläufe wurden vereinfacht, Gabelgriffe wurden durch Klappenmechanismen ersetzt. Dies hatte zur Folge, dass auch die kurzen Töne f' fis' und g’ ohne Beteiligung der rechten Hand ("Abdecken" zwecks Intonationskorrektur) spielbar waren. Die Daumenstütze ermöglichte es, dass das Gewicht der Klarinette ausschliesslich auf den Daumen zu verlagern, was auch zu Überbelastungen führen kann. Durch Erfindung der rechten Daumenklappe - sie ermöglichte das Legatospiel zwischen h und cis - und mit zunehmendem Gewicht der Instrumente geriet die Funktion, durch die Haltearbeit die Klarinette auch mit sanftem Druck zum Ansatz heranzuführen und dadurch an der Kontrolle des Blattes mitzuwirken, in den Hintergrund. Die Gefahr dieser Konstellation besteht noch heute darin, nun durch die Kiefermuskulatur zu viel Druck auf das Blatt auszuüben. Bei diesem erhöhten Ansatzdruck konnte auch nicht mehr mit Doppellippenansatz gespielt werden.
Seither ist es eine der grössten Herausforderungen, bei der Ansatzformung nicht auf das Mundstück zu beissen („mordre sur le bec“). Siehe dazu auch die Bemerkung von Frédérique Berr.
Mit den früheren 6-klappigen Instrumenten organisierte sich die Haltearbeit - ohne Daumenstütze - in verschiedenen Griff-Kombinationen unter Beteiligung des Daumens mit den übrigen Fingern der rechten Hand. Ein Hinweis darauf findet sich in Franz Joseph Fröhlichs[1] Unterrichtswerk von 1811:
„Den rechten Daumen setzte man unter das Clarinett zwischen dem Zeige-und Mittelfinger (besser etwas tiefer, als zu hoch, weil das Clarinett meisten Theils [also nicht nur!] die Haltearbeit von diesem Finger erhält)...“
Eindeutig wird die Beteiligung der linken Hand an der Haltearbeit in der "Méthode complète" von Frédéric Berr[2] beschrieben:
„Le poids de l'instrument repose en partie sur la main gauche..."“
„Das Gewicht des Instrumentes liegt zum Teil auf der linken Hand...“
Haltearbeit rechte und linke Hand
Wird das Instrument nur mit der linken Hand in Spielposition gehalten, entsteht durch ein Drehmoment ein deutlich spürbarer Druck auf die oberen Schneidezähne. Dies erlaubt uns, die Blattschwingung mit nur minimalem Druck auf der Unterlippe zu kontrollieren.
Gleichzeitig lässt sich der rechte Daumen (entsprechend dem musikalischen Zusammenhang) von der Haltearbeit entlasten. Die Form des rechten Daumens sollte wenn immer möglich in allen Gelenken leicht gebogen bleiben. Das Gesamtbild der Gelenkstellungen des Daumens beeinflusst in erheblichem Mass die Gelenkstellungen der anderen Finger. Bei der Haltearbeit des Instruments sollten alle involvierten Gelenke der Finger, Hände und Arme mit der Biege- und Streckmuskulatur soweit stabilisiert werden, dass keines der durch das Gewicht des Instrumentes durchgeknickt werden kann. Je nach Handgrösse ist eine mehr oder weniger gebogene Form der Finger anzustreben, um unnötige Spannungen in der Hand zu vermeiden. Leicht gebeugte Finger ermöglichen grössere Beweglichkeit. Häufig sind Probleme der Geläufigkeit auf eine ungünstige Form des rechten Daumens zurückzuführen.[3]
Haltearbeit und Ansatzdruck
Siehe auch Ansatz, traditionelle Formen und Ansatzlinie
In der historischen Tradition des "Übersichblasens" hat sich eine Funktion der rechten Hand (nicht nur des Daumens) etabliert, welche - kombiniert mit der Haltearbeit - einen leichten und modifizierbaren Druck in Richtung Ansatz erzeugt. Die Haltearbeit und nicht die Kiefermuskulatur bestimmt somit den Druck, der auf das Blatt ausgeübt wird. Es kann für die Durckverteilung im Ansatzbereich vorteilhaft sein, auch die linke Hand in die Haltearbeit zu involvieren.
Haltearbeit und Ansatzlinie
Siehe auch Ansatz, traditionelle Formen und Ansatzformung
Auf die Ansatzformung folgt das Ansetzen des Instrumentes durch eine bewusst ausgeführte Haltearbeit. Die Haltearbeit des Instrumentes ist eng mit der Ansatzformung verbunden, da sie die klangrelevanten Faktoren wie Ansatzlinie und auf das Blatt einwirkender Druck entscheidend beeinflussen kann. Unter der Ansatzlinie versteht man die Linie, auf welcher das Blatt auf Unter- (oder Ober-)Lippe aufliegt. Die Ansatzlinie bestimmt die Grösse der Blattfläche, welche frei schwingen kann.
Der Druck, der auf das Klarinettenblatt ausgeübt wird, ist vom Einsatz der Kaumuskulatur und von der Haltearbeit in Kombination mit der Kieferstellung abhängig. Es ist von Vorteil, den Kiefer durch gleichzeitigen Einsatz von Mund öffnender und Mund schliessender Muskeln zu stabilisieren. Wird bei der Ansatzformung nur die schliessende Kiefermuskulatur (M. Masseter) aktiviert, entsteht ein zu grosser Druck auf das Klarinettenblatt und die Klangqualität wird negativ beeinflusst.
Vorgehen
In einem ersten Schritt das Klarinettenmundstück ca. 1 cm von der Spitze entfernt an den oberen Schneidezähnen ansetzen. Es bleibt ein Zwischenraum zwischen Blatt und Unterlippe (Abb. A).
Es gibt drei Möglichkeiten, den Kontakt zwischen Blatt und Unterlippe herzustellen (bitte ausprobieren):
1. Der Unterkiefer wird nach oben gezogen (Abb. B); Diese Bewegung wird mit der kräftigen Kiefermuskulatur gesteuert.
- Nachteile
- Die frei schwingende Fläche des Blattes wird kleiner
- Der Druck der Unterlippe trifft das Blatt an einer bereits dünnen Stelle, der Abstand zum Mundstück verringert sich, es bleibt wenig Spielraum für die Schwingung des Blattes
- Die Bahnöffnung ist an dieser Stelle bereits etwas grösser, was die Hebelwirkung der Kraft auf das Blatt verstärkt. Der 1. und 2. beschrieben Effekt verdoppelt sich
- Die Unterlippe läuft Gefahr, durch die kräftige Kiefermuskulatur zwischen Blatt und unterer Zahnreihe lädiert zu werden
Siehe auch Frédéric Berr, Traité 1836 zum Thema "Beissen"
2. Empfohlene Technik[4]: Der Unterkiefer wird nach vorne geschoben (Abb C).
- Vorteil
- Die frei schwingende Fläche des Blattes wird grösser
- Nachteil
- Diese Kieferposition kann eine ungünstige Spannung auf den Kehlkopf ausüben
3. Der Winkel zwischen Klarinette und Oberkörper wird durch eine Bewegung der Arme soweit verkleinert, bis ein Kontakt mit der Unterlippe entsteht (Abb. D). Zusätzlich kann beim Spiel der hohen Lage durch die Haltearbeit in Richtung Ansatz ein leichter Druck auf das Blatt erzeugt werden. Dadurch verschiebt sich die Ansatzlinie am Blatt ein wenig nach unten.
- Vorteile
- Die Kieferposition bleibt dabei geöffnet und flexibel
- Die frei schwingende Fläche des Blattes ist optimal gross
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 Franz-Joseph Fröhlich: Vollständige theoretisch-pracktische Musikschule für alle beym Orchester gebräuchliche wichtigere Instrumente zum Gebrauch für Musikdirectoren - Lehrer und Liebhaber; Clarinettenschule. Simrock, Bonn 1811 (Online).
- ↑ 2,0 2,1 Frédéric Berr: Méthode complète de Clarinette, adoptée au Conservatoire de Musique de Paris. J. Meissonnier, Paris 1836.
- ↑ Paolo Beltramini, Interview mit Heinrich Mätzener, Dezember 2013 (n.publ.)
- ↑ Larry Guy: The Daniel Bonade Workbook. Riverside Press, Stony Point, NY 2000.