Ansatz, traditionelle Formen

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Entsprechend den Entwicklungen im Instrumentenbau, sowie regionalen und klanglichen Traditionen folgend wurden unterschiedliche Techniken der Ansatzformung gepflegt.

Historische Betrachtungen

Die Frage nach der richtigen Position des Blattes - soll es Ober- oder Unterlippe berühren? - beschäftigte während des 19. Jh. alle namhaften Klarinetten Pädagogen. Die heute gebräuchliche Ansatztechnik bei der das Blatt auf die Unterlippe liegt und die Zähne das Mundstück berühren, hat eine lange Entwicklung hinter sich. Das Wissen und Experimentieren mit den früheren Formen der Ansatztechnik erweitert die Flexibilität aller am Ansatz beteiligten Bereiche. Die Position des Unterkiefers, die Form und Spannung der Lippenmuskulatur, die Form und Position der Zunge sowie die Ausformung der Mundhöhle werden ins Bewusstsein gerückt.

„Übersichblasen“

Klarinetten und Chalumeaux wurden im 18. Jhd. meistens von Oboisten und Fagottisten gespielt (siehe Michel Blazich (2014)[1], und mit entsprechendem Ansatz angeblasen: Mundstück und Blatt wurden von Ober- und Unterlippe umhüllt. Dabei berührte die Oberlippe das Blatt, die Unterlippe hatte Kontakt mit dem Mundstück, das damals auch deutlich schlanker gebaut wurde. Diese Anblasart, in den historischen Unterrichtswerken (Fröhlich, 1811) „Übersichblasen“ oder "Obersichblasen" genannt, wird in der heutigen Fachliteratur als maxilliarer Ansatz (Heike Fricke, 2013)[2] bezeichnet (von lateinisch Maxilla, der Oberkiefer). Grundsätzlich wird mit dieser Anblasart eine Fingertechnik verbunden, die häufig "Stützfinger" anwendet. Dabei werden verschiedene Tonlöcher, die keine Tonhöhenänderung bewirken, abgedeckt. Im Zusammenspiel mit dem rechten Daumen wird auf diese Weise die Haltearbeit ausgeführt. Als Teil der Ansatztechnik kann die rechte Hand einen sanften Druck in Richtung Ansatz aufgebaut werden.

Das „Übersichblasen“ wurde im ausgehenden 18. Jhd. in Paris gelehrt, wo auch von Amand Vanderhagen[3] und Jean-Xavier Lefèvre[4] die ersten umfassenden Unterrichtswerke für Klarinette erschienen sind.

Nach der Französischen Revolution wurde diese Anblastechnik im Einflussbereich des „Conservatoire National de Musique“ bis in die 1820-er Jahre vertreten.

In Italien setzen die Klarinettisten die Tradition des „Übersichblasen“ fort und die Methode hielt sich bis in die Mitte des 20 Jhd. Ferdinando Busoni (1866-1925)[5], der Vater der Komponisten Ferrucio Busoni, hielt das „Übersichblasen“ für das einzig Richtige, da der Klang im Kontakt mit der schwächeren Oberlippe weit modulationsfähiger und weicher, die Möglichkeiten der Schattierungen grösser und die Intonation reiner war.

Wichtigste Vertreter der dem Bel Canto nahe stehenden „Neapolitanischen Schule"[6] sind Fredinando Sebastiani [7] (1803-1860), und sein Schüler Gaetano Labanchi (1829-1908). Zusätzlich zu den klanglichen Vorteilen und zur Variabilität der Artikulationsmöglichkeiten, die das „Übersichblasen“ mit sich bringt, hebt Gaetano Labanchi die grossen dynamsichen Möglichkeiten bis hin zum Verklingenlassen des pianissimo hervor:

„Si può talmente assottigliare da produire i suoni di un'eco piu o meno lontana comecchè si voglia.“

Man kann auf diese Art die Klangproduktion dermassen verfeinern, dass man die Töne nach Belieben in einem näher oder weiter entfernt klingenden Echo spielt.

Gaetano Labanchi: Gran Metodo Progressivo per Clarinetto[8].



„Untersichblasen“

Beim „Untersichblasen“ berührt das Blatt die Unterlippe. Diese Ansatzart, auch mandibularer Ansatz[2] genannt (von Lateinisch Mandibula, der Unterkiefer), empfiehlt erstmals der "Bandmaster" Lorents Nicolai Berg (1782)[9].

„Untersichblasen“ als Doppellippenansatz

Diese Ansatztechnik - das Blatt berührt die Unterlippe, die Oberlippe bedeckt die oberen Zähne und umhüllt das Mundstück - kann in den Unterrichtsmethoden des Conservatoire de Paris bis in die Anfänge des 20. Jh. als Standard nachgewiesen werden, siehe die Méthodes von Hyacinthe Klosé (1843)[10] und Prospère Mimart (1911)[11] und sogar Eugène Gay (1932)[12]. Heinrich Baermann - angenommen, er berührte nicht auch schon mir den Zähnen das Mundstück - feierte mit dieser Anblastechnik 1817/18 in Paris als Solist grosse Erfolge. Frédéric Berr, Professor des "Conservatoire National de Musique" 1831-1836, war von den dynamsichen und klanglichen Möglicheiten und von der Ansatztechnik Heinrich Baermanns überzeugt, und führte das "Untersichblasen" als Standard in Frankreich ein, behielt aber wohlbemerkt das "Umhüllen des Mundstückes" auch mit Unter- und Oberlippe bei.

„Ca permet une grande fléxibilté de dynamique; forte avec beaucoup de force, piano écho avec tant de douceur qu’on aurait cru que les sons venait d’une salle voisine"... je conseillerai de tenir en garde contre une mauvaise habitude qui existe en Allemagne: c’est de mordre sur le bec. Ce défault donne une mauvaise qualité de sons, et nuit à la flexibilité de l’expression.“

Das [Untersichblasen] erlaubt eine grosse dynamische Flexibilität; das Forte erklingt mit viel Kraft, das piano echo mit soviel Zartheit, dass man glaubt, die Klänge kämen aus einem benachbarten Zimmer.... Ich rate jedoch, sich vor einer schlechten Gewohnheit, die in Deutschland vorkommt, in Acht zu nehmen: das ist das Beissen auf das Mundstück. Dieser Fehler gibt eine schlechte Klangqualität und zerstört dei Flexibilität des Ausdruckes.

Frédéric Berr: Traité[13]

Auch zeitgenössische Pädgogen empfehlen die Anwendung des Doppellippenansatzes für Übungen der Tonbildung, siehe Ansatzformung.



"Untersichblasen", heute verbreiteter Ansatz

Iwan Müller patentierte 1812 seine neue, zu 13 Klappen ergänzte Klarinette und gab dazu eine Anweisung mit dem Titel "Müller's "Gamme pour la nouvelle clarinette (c. 1812)" [14]. Ausführliche Spielanweisungen beschreibt Iwan Müller in seiner 1821 erschienen Methode [15]. Er empfiehlt dabei, mit dem Blatt nach unten zu spielen, da der Daumen für die auf der Rückseite platzierten Klappen [8] mehr Spielraum hätte, während beim Spiel mit Doppellippenansatz der Daumen vor allem für die Halterbeit eingesetzt werden müsste[9] (siehe Methode, S.23 unterster Abschnitt und S.24). Iwan Müller empfiehlt auch, eine schützende "carte" zwischen Zähne und Unterlippe zu legen, um die Unterlippe vor Verletzung zu stützen. Das weist darauf hin, dass durch die neuen Daumenklappen die Stützfunktion des rechten Daumens in den Hintergrund trat, der Ansatz musste nun stärker in die Haltbarkeit eibezogen werden und war dementsprechend grösserer Druckbelastung ausgesetzt. Seine Anweisungen sind jedoch nicht eindeutig, er lässt offen, wie auch Heinrich Backofen, ob unter- ober übersichblasen die besseren klanglichen Resultate hervorbringt. Diese Technik des "Untersichblasen" mit Position der oberen Zähne auf dem Mundstück festigte sich nach dem Wirken von Joseph Beer Joseph Beer (1744 - 1812) und Franz Tausch (1762 - 1817) in Berlin und mit den Erfolgen ihres Schülers Heinrich Baermanns im deutschen Sprachraum. Carl Baermann, der Sohn Heinrich Baermanns, hält den Ansatz als "für die Tonbildung das wichtigste, ja, er ist eigentlich die Tonbildung selbst."[16]

Carl Baermann war kompromissloser Verfechter des „Untersichblasens“. Im Unterschied zu den in Frankreich und Italien verbreiteten Lehrmeinungen mussten dabei die oberen Zähne und nicht die Oberlippe das Mundstück berühren. Um das aus Holz gefertigte Mundstück vor Abnützungen zu schützen, wurde es durch eine Silberplatte geschützt. Angebliche klangliche Vorteile des Doppellippenansatzes hielt Baermann als Selbsttäuschung:

„[...] diese Anblasart ist natürlicher und zweckmässiger [...] da die Ausdauer und daher in notwendiger Folge die Sicherheit wenigstens die doppelte ist [...] Viele Klarinettisten spielen die Ober- und Unterlippe über die Zähne gezogen, wodurch der Ton dem Bläser selbst, jedoch nur scheinbar, weicher klingt [...]“

Carl Baermann: [10][16]


Kombinieren von einfachem- und Doppellipenasnatz

Durch regelmässiges Üben mit Doppellippenansatz können die Vorteile dieser Ansatzart (Unabhängigkeit von Vokal- und Ansatzformung, Klangfülle durch Ausformung der Mundhöhle, kombiniert mit dynamischer und intonatorischer Flexibilität, Schonen der Unterlippe) mit den Vorteilen des einfachen, herkömmlichen Ansatzes (Schonen der Oberlippe, Ausdauer und Stabilität der Toführung) kombinert werden.

Einzelnachweise

  1. Joan Michelle Blazich[1]: Amand Vanderhagen: „Original Text, English Translation, and a Commentary on Amand Vanderhagen’s Méthode Nouvelle et Raisonnée Pour La Clarinette (1785) and Nouvelle Méthode de Clarinette (1799): A Study in Eighteenth-Century French Clarinet Music. Edwin Mellen Press, Lewiston 2009, S. 3. Stand 24. Juli 2014
  2. 2,0 2,1 Heike Fricke: Die Klarinette im 18. Jahrhundert: Tendenzen und Entwicklungen am Beispiel der Sir Nicholas Shackleton Collection. Finkenkruger Musikverlag, Falkensee 2013, S. 269
  3. Amand Vanderhagen: Méthode nouvelle et Raisonnée. Paris 1785.
  4. Jean-Xavier Lefèvre:[2]Méthode de clarinette adoptée par le conservatoire pour servire à l’ètude dans cet établissement. Paris 1803. Stand 25. Juli 2014
  5. Ferdinando Busoni: Scuola di perfezionamente per il clarinetto: scale di esercizj in tutti toni...con aggiunta di sette grandi studi. Hamburg-Cranz, 1883. Zitiert nach Eric Hoeprich: The Yale Musical Instrument Series, The Clarinet. Yale University Press: New Haven and London 2008. S. 201-202. Stand 18. Juni [3] 2014
  6. Ingrid Elizabeth Pearson[4]: Ferdinando Sebastiani, Gennaro Bosa and the Clarinet in Nineteenth-Century Naples. In: The Galpin Society Journal, Vol 60, 2007, S. 203–115.
  7. Fredinando Sebastiani: ’’Methodo per clarinetto’’. Napoli 1855. Zitiert nach Ingrid Elizabeth Pearson[5]: „Ferdinando Sebastiani, Gennaro Bosa and the Clarinet in Nineteenth-Century Naples“. In: The Galpin Society Journal, Vol 60, 2007, S. 209
  8. Gaetano Labanchi[6]: Metodo Progressivo per Clarinetto. Napoli 1886, S.2 Stand 25. Juli 2014,
  9. In Albert Rice: Clarinet Fingering Charts, 1732-1816, p. 20 und 39. The Galpin Society Journal Vol. 37 (Mar., 1984), pp. 16-41
  10. Hyacinthe Klosé: Méthode pour servir á l'enseignement de la clarinette : á anneaux mobiles, et de celle á 13 clés. Meissonnier, Paris 1843
  11. Prospère Mimart: Méthode nouvelle de clarinette théorique et pratique... . Enoch, Paris 1911
  12. Egène Gay: Méthode progressive et complète (théorique et pratique) pour l'étude de la clarinette du début à la virtuosité. G. Billaudot, Paris 1932
  13. Frédéric Berr: Traité complet de la clarinette a quatorze clefs; manuel indispensable aux personnes qui professent cet instrument et à celles qui l'étudient. Duverger, Paris 1836.
  14. Albert Rice: Müller's "Gamme De La Clarinette" (c. 1812) and the Development of the Thirteen-Key Clarinet. The Galpin Society Journal, Vol. 56 (Jun., 2003), pp. 181-184
  15. Iwan Müller: Methode pour la nouvelle clarinette & clarinette-alto suivie de quelques observations a l'usage des facteurs de clarinettes, Paris, 1821 [7]
  16. 16,0 16,1 Carl Baermann: Vollständige Clarinett-Schule: von dem ersten Anfang bis zur höchsten Ausbildung des Virtuosen; Erster Theil Op.63 S. 5. Johann André, Offenbach/Main 1861

Literatur

  • Adriano Amore: Ferdinando Sebastiani (1803-1860) und die Neapolitanische Klarinettenschule. rohrblatt, Juni 2008, S.58-59
  • Collin Lawson, Ingrid Pearson:[11]The Early Clarinet: A Practical Guide. Cambridge University Press, 2000.
  • Eric Hoeprich[12]: The Clarinet. Yale University Press, New Naven und London 2008.