Milan Rericha
Das Interview mit M. A. Milan Rericha wurde am 10. Juni 2015 an der HSLU-Musik, Dreilinden geführt.
Didaktischer Kanon
HM: Behandelst du mit deinen Studenten kontinuierlich die Parameter der Grundtechnik anhand von Tonübungen, Tonleitern und spezifischen Übungen für die Fingertechnik, die Artikulation, die Intonation und die Ansprache? Oder arbeitest du an den Repertoire-Stücken und behandelst die Fragen der Grundtechnik anhand der aktuellen technischen Herausforderungen?
Grundtechnik als Voraussetzung künstlerischer Gestaltung
MR: Ich bin sehr auf die Arbeit an der Grundtechnik fokussiert. Wenn du ein guter Didaktiker und Pädagoge bist, arbeitest du mit den Studierenden konsequent an einer soliden Grundtechnik. Niemand kann Kunst machen, ohne die Basis gut zu beherrschen. Denn nur wer die Basis beherrscht, verfügt auch über die notwendige Freiheit, einen musikalischen Text gestalten zu können. Die Resultate eines Unterrichts, der sich zu früh und ausschliesslich auf die „Kunst“ konzentriert, sind – es tut mir leid – katastrophal: Keine zuverlässigen Einsätze, mangelhafte Intonation. Es wird zwar Kunst gemacht, aber alles in allem klingt diese seltsam.
Tonleitern
Dazu übe ich alle Tonleitern mit allen Varianten der Artikulation: Zuerst legato, wie Honig. Dabei geht es um die Kontrolle des Klanges, der Intonation und des Toneinsatzes. Der natürliche Charakter der Klarinette klingt unten ganz breit, oben ganz eng. Das muss man mit den Lippen, d.h. mit einer flexiblen Ansatzformung, korrigieren. So wird die Arbeit an den Tonleitern zur Arbeit am Klang.
Tonbildung
Tonbildung mit Messa di Voce
Das heisst: Jeden Tag 20 Minuten lang Töne aushalten. Als Student habe ich mich mit einer Uhr überprüft, bis ich die Töne 30 Sekunden lang aushalten konnte. Von pianissimo bis fortissimo und wieder zurück. Natürlich klappte das nicht von Anfang an. Zuerst waren es 20 Sekunden, die ich dann sukzessive verlängert habe. Das hat mir für den Rest der Grundtechnik sehr geholfen. Tonübungen gehören auch heute noch zu meinem täglichen Programm, sofern dies irgendwie möglich ist. Gerade für meine solistischen Auftritte sind sie sehr wichtig. Darum ist es natürlich klar, dass ich das gleiche auch von meinen Studenten verlange.
Isoliertes Arbeiten an den Komponenten der Tonbildung
HM: Arbeitest du an den einzelnen, isolierten Komponenten, die es bei der Tonbildung zu berücksichtigen gilt?
MR: Im Idealfall ergänzt sich alles auf natürliche Weise. Von der Ausstrahlung und Bühnen-Präsenz sowie einem authentischen Spiel über die ideale Körperhaltung bis hin zur Flexibilität in der Ansatzformung. Aber viele Studenten sind nicht fähig dazu, sich selbst zu kontrollieren.
Haltung
Oft lasse ich die Studenten vor dem Spiegel üben. Manchmal muss man aber bewusst an den einzelnen Parametern arbeiten. Eine körperliche Dysbalance lässt sich an Ersatzbewegungen, wie z.B. den hochgezogenen Schultern, ablesen. Eine solche Dysbalance kann auch erst bei grösseren Belastungen wie einem Konzert oder einem Probespiel auftreten. Umso wichtiger ist es, dass der Lehrer seine Verantwortung wahrnimmt und schon in den Gruppenstunden darauf achtet, dass das körperliche Gleichgewicht in der Vorspiel Situation gewährleistet ist. Auch hinsichtlich einer Musikerkarriere, die ein ganzes Leben dauern soll, ist eine nachhaltige, körpergerechte Instrumentaltechnik etwas vom wichtigsten. Ich zögere auch nicht, bei spezialisierten Fachkräften der Alexandertechnik oder der Feldenkrais-Methode Unterstützung zu suchen. Bei Studenten, die sehr gut spielen aber gleichzeitig sehr verkrampft sind, empfiehlt es sich sehr, eine solche Hilfe herbeizuziehen. Im Idealfall ergänzen sich Musiker und Spezialisten der Körperarbeit in einer guten Zusammenarbeit. Wir [Fachkräfte] hören immer, wenn sich körperliche Spannungen negativ auf das musikalische Ergebnis auswirken. Da muss man reagieren.
Anblaswinkel
Die Haltung des Instrumentes ist auch sehr wichtig. Es braucht einen Winkel von 45° [zwischen Spieler und Instrument], damit man die volle Kontrolle über den Klang hat. Es sollte ein Gleichgewicht zwischen allgemeiner Körperhaltung, Haltung des Instrumentes und dem Ansatz hergestellt werden. Der Anblaswinkel darf nicht zu spitz sein, die Zwinge darf das Kinn nicht berühren.
Ansatzformung
Ich habe lange mit einer Ansatzformung gespielt, die dem Lächeln ähnelt. Das ist heute nicht mehr modern. Nach meinem Studium in Prag, hatte ich Unterricht bei Michel Arrignon und Alain Damiens in Paris. Obwohl Alain meinen Ansatz optisch – ich hatte die Lippen seitlich gespannt – fürchterlich fand, war er mit dem klanglichen Resultat zufrieden. Ich habe trotzdem daraufhin meinen Ansatz geändert und lernte die heute übliche, „runde“ Ansatzformung.
Der „runde“ Ansatz, das "0"
Ich habe beobachtet, dass sich die Lippen oval, wie ein Ei anfühlen sollen. Diese Form bleibt stets dieselbe, und muss gut ausgestaltet werden. Sie kann dabei ein bisschen enger oder ein bisschen weiter sein.
HM: Da du konsequent mit dieser ovalen Ansatzformung arbeitest, stellt sich nie das Problem ein, dass die Spieler in das Mundstück „beissen“?
MR: Natürlich nicht. Wenn die Leute immer „rund“ denken und diese Vorstellung des ovalen Ansatzes haben, ergibt sich eine grössere Öffnung beim Ansatz.
Der Ansatz muss rund geformt sein. Sobald seitlich Luft entweicht, ist in die Ansatzform entsprechend zu korrigieren. Luft entweicht dann, wenn die Lippen als parallel und übereinander, wie ein obere und eine untere Reihe wahrgenommen werden. Der Mund wird zwar optisch als Ober- und Unterlippe wahrgenommen, die Lippen bilden aber, wie es bei der Vokalformung „o“ sichtbar wird, eine Einheit. Bei dieser Vokalformung klingt alles fliessender, piu dolce, hat mehr Farbe. Ich sage immer: Der Ansatz soll sich wie ein Oval anfühlen, welches sich weiter und enger machen kann.
Vokalformung
Wenn man mit der Vorstellung dieses ovalen Ansatzes spielt, wirkt sich dies auch im Innenraum des Mundes positiv auf die Klangformung aus. Man sieht ja nicht, was sich in der Mundhöhle alles abspielt und kann deshalb nicht wirklich konkrete Hinweise dazu geben. Die Vorstellung, ausgeprägt einen ovalen Ansatz zu formen, bewirkt hier – so meine Erfahrung – sehr viel.
Flexibilität je nach Registerlage
Die Flexibilität der Ansatzformung mit den Lippen ist sehr wichtig. Je nach aktueller Registerlage ist die Ansatzformung anzupassen. Oben erklingen weniger Obertöne, unten ist der Klang obertonreicher. Wir müssen versuchen, hier einen Ausgleich zu schaffen. Das ist unsere Aufgabe.
HM: Wie modifizierst du den Ansatz in der hohen bzw. in der tieferen Lage? Braucht die hohe Lage eine andere Ansatzformung als die tiefere Lage?
MR: Wenn man im oberen Register spielt, muss sich der Ansatz in seiner ovalen Form etwas weiten [mehr oder weniger, entsprechend der aktuell angestrebten Intonation] (siehe auch Staccato und Tonbildung. Im unteren Register zeichnet der Klang besser, wenn man den Ansatz entsprechend zentrierter ausformt. Er erhält mehr Kontur und ist kompakter.
Sensibilität der Unterlippe
Wenn ein Kind die Klarinette ganz natürlich in den Mund nimmt – die oberen Zähne berühren das Mundstück – liegt das Blatt auf der Unterlippe auf. Es ist darauf zu achten, dass die Unterlippe nicht zu weit über die untere Zahnreihe gezogen wird. Die Unterlippe soll an der Stelle, wo sie am sensibelsten ist, Kontakt mit dem Blatt haben. Und diese Sensibilität muss bewusst für die Klangformung eingesetzt werden. Es ist die Partie der Lippe, die rot gefärbt ist, die das Blatt berühren muss. Mit dieser Partie kann Klang und Intonation moduliert werden. Sobald diese Ausformung in Ordnung ist, kann sich der Rest der Ansatzformung je nach individueller Disposition unterschiedlich gestalten und muss nicht einheitlich sein. Es [der Ansatz] sollte sich natürlich und bequem anfühlen, ein natürliches Blasen in die Klarinette zulassen und keine Verkrampfungen auslösen. Wenn es gut klingt und wenn es sich gut anfühlt, dann stimmt es.
Atemtechnik, Atemstütze und Luftführung
Durchlässigkeit
Die Klarinette ist ein Blasinstrument. Hier kommt auch die Bedeutung eines ganzheitlichen Körpereinsatzes zum Tragen. Vom Beckenboden bis zum Schallbecher der Klarinette muss eine Einheit entstehen, eine zusammenhängende Luftsäule. Eine unpassende Bewegung kann den Luftstrom in dieser Luftsäule empfindlich stören. Er muss vom Zwerchfell bis hin zum Becher ungehindert fliessen können. Bei jungen Leuten kann es auch noch ohne diese Durchlässigkeit klappen. Beim Berufsmusiker kann dies aber zu Problemen führen. Es ist die Aufgabe und eine grosse Verantwortung des Lehrers, auf eine gute Körperhaltung zu achten. Probleme einer schlechten Körperhaltung zeigen sich im Klang und im Durchhaltevermögen beim Spielen, aber auch in den eingeschränkten Möglichkeiten zur musikalischen Gestaltung. Spielen mit schlechter Körperhaltung ist wie eine Reise mit ungewissem Ausgang.
Priorität in der Didaktik: Atemstütze oder Ansatz ?
HM: Der Zusammenhang von Ansatz und Atemstütze ist evident. Wo würdest du bei den Studenten mit der Arbeit beginnen: Bei der Atemstütze oder beim Ansatz?
MR: Bei der Luftführung oder der Atemstütze! Die Didaktik der „alten Schule“ ist bei der Herstellung des Klanges immer noch ausschliesslich auf [Ansatz und] Artikulation fokussiert. Von Luftführung oder Atemstütze wird gar nicht gesprochen. Sobald die Klarinette irgendwie klingt, genügt das schon. Aber es ist natürlich schwierig, einem Kind zu erklären, wie ein voller Klang hervorgebracht wird. Ich habe versucht, dies so zu beschreiben: Man sollte bei der Klangerzeugung denselben Druck aufbauen, wie wenn man auf der Toilette sitzt [Achtung: Um den nötigen Druck bei der Bauchpresse nach oben zu richten, müssen dabei, als Gegen-Spannung zum Abdominaldruck, die Muskeln des Beckenbodens aktiviert werden. Zudem dürfen sich im Kehlkopf die Stimmbänder nicht schliessen, der Gegendruck ist alleine durch die Ansatzformung gegeben und folglich viel kleiner, als bei der Bauchpresse].
Vollatmung beim Einatmen
Oft haben die Schüler gehört: Du musst mit dem Zwerchfell atmen. Aber wie geht das? Wo ist das Zwerchfell? Der Hinweis, tief nach unten, eben mit dem Zwerchfell einzuatmen, blockiert viele Leute. Man kann ja nicht ohne die Lungen einatmen! Es braucht eine Vollatmung. Man atmet in die Lunge [mit der Zwischenrippenmuskulatur], unter Mitwirkung des Zwerchfells ein. Das Zwerchfell ist ein Muskel und liegt zwischen Lungen und Magen. Und man muss wissen, wie man mit diesem Muskel arbeiten soll. Wenn ich tief einatme, arbeitet dieser Muskel. Beim Ausatmen darf die Luft aber keinesfalls heraus gepresst werden. Es ist wie bei einem Ballon. Das Austreten der Luft erfolgt immer durch dieselbe kleine Öffnung [diese Öffnung entspricht beim Blasinstrument der Ansatzformung]. Wenn der Ballon voll ist, tritt die Luft schneller aus. Wenn der Ballon Spannung verloren hat, verliert auch der Luftstrom an Geschwindigkeit. Dasselbe erleben wir mit einer Vollatmung, welche die Brust- und die Zwerchfellatmung kombiniert.
Danach erfolgt das Anblasen der Klarinette auf natürliche Weise. Das ist sehr schwierig, besonders für die Kinder. Aber mit dem Bild des Ballons und mit dem Vergleich mit der Bauchpresse konnte ich auch Kindern eine Atemtechnik aufzeigen, die zu guten klanglichen Resultaten führte. Und es ist auch lustig für die Kinder: Sie erkennen den Zusammenhang von Atemtechnik und Klangqualität, die Thematik lässt sich locker und mit etwas Humor vermitteln.
Ansprache
HM: Nehmen wir von Saint-Saëns den Schluss des ersten Satzes der Klarinettensonate als Beispiel: Hier brauchen wir eine Technik, die es uns ermöglicht, mit dem c’’’ im piano einzusetzen. Welche technischen Anweisungen kannst du dazu geben?
Geheimnis der Ansprache: Vorbereitung in Luftführung und Atemstütze
MR: Das hat wiederum mit Luftführung und Atemstütze zu tun. Aber wir sollten nicht erst am Ende des Satzes davon sprechen: Es beginnt schon bei der ersten Phrase der Sonate. Hier kann das Phrasieren über die Pause hinweg thematisiert und geübt werden. Viele Leute atmen – oft unbewusst – schon nach vier Tönen, weil hier eine Pause steht. Die Phrase ist aber über die Pause hinweg komponiert, und dementsprechend muss auch die Luftführung organisiert sein. Ich komme zurück auf das Bild des Ballons: Wenn ich hier die Luft unterbreche, bleibt die [Innen-]Spannung weiterhin bestehen: Genau so kann ich den Klang unterbrechen, ohne die Atemstütze abzuspannen. Es ist dann sehr wichtig, nach der Phrase die Stützspannung zu lösen und vor dem nächsten Toneinsatz wieder alles neu aufzubauen. Wird dieser Prozess von Ein- und Ausatmung nicht richtig reguliert, können in nervösen Situationen Probleme auftreten.
Ansprache und musikalische Phrasierung
Eine Pause ist immer Musik. Sie kann zwei Teile einer Phrase verbinden oder kann musikalische Phrasen voneinander trennen. Nur im zweiten Fall bedeutet eine Pause auch physische Entspannung. Dieses Loslassen ist für uns Bläser lebenswichtig, da unter Dauerspannung kein Muskel arbeiten kann. Ohne den Abspann staut sich zu viel Spannung an, bei zusätzlicher Nervosität gibt es Fehler.
Nun zum Schluss des ersten Satzes der Saint-Saëns Sonate [das c’’’ ist wohl durch eine Pause von der vorausgehenden Figur im Chalumeau-Register getrennt, die beiden Ereignisse gehören in der musikalischen Syntax aber zusammen]: Versuche also auch hier den Einsatz auf dem c’’’, ohne vorher zu atmen. Trage die „Innenspannung des Ballons“ über die Pause hinweg in dir drinnen weiter bis hin zum c’’’. So kann das c’’’ pünktlich, schön im Klang und in der korrekten Intonation hergestellt werden. Die vorher erwähnte Verbindung vom Zwerchfell über die Luftsäule im Instrument bis hin zum Schalltrichter muss durchlässig bleiben und darf vor dem Einsatz nicht verschlossen werden.
Fingertechnik
HM: Ich denke, dass der Daumen der rechten Hand eine Schlüsselposition einnimmt. Er muss einerseits das Instrument halten, und doch müssen die Finger beweglich bleiben. Die linke Hand hat mit dem Daumen, der die Überblasklappe bedienen muss, auch eine spezielle Bewegungen auszuführen. Natürlich ist jede Hand verschieden, und dies gilt es zu berücksichtigen. Aber gibt es prinzipielle Regeln, die es zu beachten gilt?
Nur leicht gebogene Finger
MR: Klavier spielen ist sehr wichtig! Auch wenn wir mit unserer Hand durch die Haltearbeit nicht ganz frei sind, sollten die Bewegungen der Finger eigentlich dieselben sein wie beim Klavierspiel. Man spürt das Gewicht der Klarinette weniger, wenn man sich vorstellt: „Das ist ein Spiel“. Es ist wichtig, dass sich die Finger ohne Verkrampfung bewegen können. Ich denke, dass die Finger beim spielen (nur) leicht gebogen werden sollten. Wenn jemand kommt und mit gestreckten Fingern, aber mit Leichtigkeit spielt, werde ich das nicht ändern. Wenn jemand aber die Finger zu sehr gebogen hat, empfehle ich, das zu ändern. Je nach Grösse der Hand unterscheidet sich die Position der Fingergelenke. Mit kürzeren Fingern hat man eine natürlichere Haltung. Ich selber spiele mit leicht gebogenen Fingern, keiner ist gestreckt. Alle Finger sollten gleich beweglich sein. Das lässt sich am besten bei Trillern überprüfen, diese sollten auf allen Stufen mit gleicher Leichtigkeit ausführbar sein. Insbesondere der Triller in der rechten Hand auf g-a (d’’-e’’) braucht häufig besondere Aufmerksamkeit beim Üben.
Luftführung als Basis der Fingergeläufigkeit
Dabei ist immer zu beachten, dass die Grundlage für eine gute Fingergeläufigkeit, eine gute Luftführung ist. Ohne ausreichend Sauerstoff, das heisst ohne gut einzuatmen, können sich auch die Muskeln der Finger nicht gut bewegen. Hat man Angst vor einer fingertechnisch schwierigen Stelle, ist insbesondere auf die Atmung acht zu geben. Ausreichend Sauerstoff ist wichtig für das Gelingen dieser Stellen!
Kleine Bewegungen!
Auch die Grösse der Fingerbewegung ist wichtig. Man soll die Finger nicht zu weit vom Instrument weg bewegen. Daran habe ich selber viel gearbeitet.
Staccato
HM: Einerseits ist es der Ehrgeiz aller Klarinettisten, mit einem schnellen Staccato zu brillieren. Ein kunstvolles Staccato bedeutet aber auch eine saubere Ansprache in allen Registern und in allen dynamischen Stufen. Ich denke, wenn man die Tonbildung gut erarbeitet hat, so wie oben beschrieben (Saint-Saëns), sind die Voraussetzungen für ein gutes Staccato gegeben.
Luftführung als Basis
MR: Ja, richtig. Viele Studenten kommen und sagen: "Ich habe ein Problem mit dem Staccato." Dann gebe ich zur Antwort: "Bitte warte. Du hast noch gar nichts vorgespielt!" Das Staccato ist für viele ein psychisch belastendes Thema. Ich komme zurück auf die Herstellung des Klanges: Setzt man sich der Klangproduktion auf eine Technik mit zu viel Fokus auf die Zungenbewegung, geht das Staccato nicht gut. Man muss immer denken: Luft ist das Wichtigste. Nicht nur für die Tonbildung, das Legato oder für lang ausgehaltene Töne. Sondern ganz besonders für das Staccato. Staccato ist nicht gleich Zunge. Staccato ist ein Ton, einfach ein kurzer Ton. Viele Leute spielen ein schönes Legato, können jedoch im Staccato keinen schönen Klang erzeugen. Warum? Sie denken nicht „kurzer Ton“, sie denken: „Zunge“. Es darf keinen Unterschied in der Luftführung geben, wenn du ein Legato, eine lange Note oder eine Reihe kurzer Töne spielst. Deshalb ist es wichtig, beim Staccato den gedanklichen Fokus auf die Luftführung und nicht auf die Zunge zu legen.
Es ist wichtig, dass die Zunge den Luftstrom am Blatt nicht stoppt. Die Möglichkeiten des Zungenmuskels sind zwar betreffend der Geschwindigkeit limitiert. Aber die Zunge hat die Fähigkeit, sich so zu formen und zu bewegen, dass nur die Schwingung des Blattes unterbrochen wird, die Luft aber jederzeit ins Mundstück hinein strömen kann. Das Artikulieren ist vergleichbar mit einem stimmhaften, oder je nach Situation mit einem weichen Konsonanten. Keinesfalls entspricht das Artikulieren beim Staccato einem stimmlosen Verschlusslaut wie einem „t“ oder „p“ [siehe auch Plosiv oder Verschlusslaut. Kommen wir zurück auf den Beginn der Saint-Saëns Sonate: Auch in der Pause zwischen den ersten beiden Tongruppen (f1-e1-g1-f, a1-g1-b1-a1) bleibt quasi alles im Fluss. In der Pause wird die Luft nicht am Blatt gestaut, um beim Neueinsatz wieder „losgelassen“ zu werden. Die Aktion der Zunge dient lediglich einem klar definierten Einschwingvorgang bei der Klangproduktion. Genau so verhält es sich beim Staccato. Nur in zeitlich kleinerer Dimension.
Bewegung der Zunge
HM: Welche Form und welche Position soll die Zunge beim Artikulieren einnehmen, und wie soll die Bewegung der Zunge ausgestaltet sein? Muss die Zungenspitze die Blattspitze berühren, oder findet der Kontakt mit dem Blatt weiter unten statt? Oder gibst du ganz andere Anweisungen?
MR: Es ist wichtig, dass sich die Zunge möglichst auf die selbe Art bewegt wie beim Sprechen.
Position der Zunge
Die Zunge soll möglichst nicht von der natürlichen Position abweichen. In der Ruhestellung liegt die Zunge an der unteren Zahnreihe. Wenn wir das Mundstück ansetzen und nichts an der Position der Zunge verändern, ergibt sich schon fast die „Spielposition“ der Zunge (Zeigt es mit den Händen).
Ökonomie der Zungenbewegung
Beim Sprechen bewegt sich die Zunge ganz ökonomisch. Oft ist beim Staccato die Zungenbewegung jedoch unnötigerweise viel zu kräftig und viel zu gross. Es spielt keine Rolle, welche Art von Staccato man spielt. Ob schnell, langsam, staccatissimo oder staccato dolce: Die Zunge soll sich ganz ökonomisch, in kleinen, fein dosierten Aktionen bewegen. Wir sollen auf der Klarinette so artikulieren, wie wir sprechen. Musik ist wie eine Sprache.
Berührungspunkt auf der Zunge
HM: Dann berührst du das Blatt nicht genau mit der Zungenspitze?
MR: Doch, aber leicht unter der Zungenspitze. Aus folgendem Grund: Da das Mundstück im Mund doch ein Fremdkörper ist, muss sich die Zunge dieser Situation anpassen [Die Zunge kann nicht mehr am Gaumen oder an den Zähnen artikulieren sondern muss einen Weg finden, die „Aussprache“ am Blatt, das nun im Mundinnenraum liegt, zu realisieren].
Schnelle und langsame Tempi
MR: Im Adagio soll ein Staccato länger klingen als in einem Allegro. Oft wird dieser Unterschied nicht gemacht. So werden im Adagio Artikulationen viel zu stark getrennt. Um differenzierte Anweisungen geben zu können, muss sich die Lehrperson mit der Materie vertiefter auseinander setzen. Die Voraussetzung eines schnellen Staccatos, ist ein frei strömender Atem. Darin kann sich die Zunge reflexartig bewegen.
Die reflexartige Bewegung der Zunge
HM: Du sprichst das Bild von Thomas Friedli an, der die Zunge mit einer frei im Wind flatternden Fahne vergleicht? Die Zunge hat dabei nur geringste eigene Aktivität, sie bewegt sich quasi reflexartig.
MR: Ja, genau. Dieses Bild hatte ich im Unterricht mit Thomas Friedli kennen gelernt. Wenn man die Zunge quasi im Wind flattern lässt, ist ein Modifizieren der Bewegung schon noch möglich. Im Sinne von kürzer und schärfer.
Sforzato-Effekt durch die Luftführung
Aber die eigentliche Schärfe eines einzelnen Staccato-Tones erreichst du mit einem sehr dezidierten Luftstoss. Die Zunge führt dabei immer noch die oben erwähnte, fein dosierte Bewegung aus. Würde die Zunge sich so kräftig wie der Luftstoss bewegen, wäre das Resultat ein Slap.
Übung
HM: Kannst du eine spezielle Übung für das Staccato beschreiben und erläutern?
MR: Das ist ganz einfach: Den Ton ansetzen und die Luftführung kontinuierlich fortsetzen. Dann unterbricht die Zunge ganz fein den Ton, wiederum ohne den Luftstrom zu unterbrechen. Also quasi ein non-legato auf einem Ton: daa-daa-daa-daa. Beginne mit Viertelnoten. Gehe über zu Achteln, Triolen, Sechszehnteln und wieder zurück zu den langsamen Notenwerten. Das ist wichtig. Lass aber keine Pause zwischen den Tönen zu. Die Töne klingen ganz dicht aneinander gereiht. Nie: tá-tá-tá-tá [artikuliert ein scharfes „plosives“ „t“, gefolgt von einem kurzen „á“. Zwischen den einzelnen Silben entsteht eine deutlich wahrnehmbare Pause].
Koordination von Zungenbewegung, Ansatzformung und Luftführung
Ich empfehle es, das vorerst im Chalumeau zu üben und wenn es gut funktioniert, auch ins Klarinregister zu übertragen. Hier braucht es mehr Stütze, denn wenn man im oberen Register spielt, muss sich auch der Ansatz in seiner ovalen Form etwas weiten [mehr oder weniger, entsprechend der aktuell angestrebten Intonation]. Der gelockerte Ansatz gibt der Zunge – in der Vorstellung – etwas mehr Spielraum. Dadurch wird der Klang oben runder. Die Flexibilität des Ansatzes kann aber nur mit einer bewusst angepassten Luftführung und Atemstütze angewendet werden. Der Ansatz kann nur 20% von der Qualität des Klanges ausmachen. 80% bestimmen die Atemstütze und die Luftführung. Beim Staccato teilen sich Zunge und Ansatz die erwähnten 20%. Wenn Luftführung und Atemstütze nicht funktionieren, ist ein erfolgreiches Staccato nicht möglich.
Doppelzunge
Ziel der Doppelzungen-Technik, ist ein sehr schnelles Staccato, welches das Spielen von Sechszehnteln in Tempi von über ♩= 130 erlaubt.
Übung
Die Doppelzungen-Technik ist einfach. Zu Beginn muss man die Aussprache der Artikulationssilben ohne Klarinette beherrschen. Ich lasse die Studenten auf verschiedenen Vokalen artikulieren: laa lee lii loo luu |: dagadaga :||: degedege :||: digidigi :||: dogodogo:||: dugudugu :|| und nicht: tacka - tacka
Dann ist das Vorgehen ähnlich wie bei der Einfachzunge: Vor dem Toneinsatz muss die Luftführung zusammen mit der Atemstütze etabliert sein. Die Zunge hilft lediglich, dem Toneinsatz zeitliche Präzision zu geben: fff... [R. macht den Luftstrom hörbar] ...„dæ“ [imitiert die Klangproduktion auf dem schon fliessenden Luftstrom mit Zungenartikulation und der Silbe „dæ“]. Dasselbe ist nun mit der Silbe „gæ“ üben. Das sind wir uns nicht gewöhnt (Vokal „æ“ siehe phonetisches Alphabet. Bei der Übung mit dem Instrument empfehle ich, mit der Silbe „gæ“ zu beginnen: „gæ - dæ - gæ -dæ“. Und auch hier muss die Luftführung wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Die Silben gæ - dæ - gæ dürfen den Luftstrom nie unterbrechen. Anschliessend sollen analog zur Übung für das Staccato folgende Schritte durchgeführt werden:
- Staccato zuerst im oberen Chalumeau.
- Viertel, Achtel bis zu Sechszehntel wechselnd artikulieren. Einmal mit gæ beginnen, dann mit dæ.
- Erst wenn das Chalumeau sauber anspricht, kann die Duodezime angespielt werden.
Übungen mit Doppelzunge sind anstrengender als Übungen für Einfachzunge, da sie mehr Luft brauchen. Es ist hier besonders wichtig, dass der Ansatz Raum für die Zungenbewegung (siehe oben, Staccato und Tonbildung) schafft. Mit einer zu engen Ansatzformung ist die Doppelzunge im Klarinregister nicht realisierbar. Die Doppelzunge „frisst“ sehr viel Luft!
Erst wenn die Töne im langsamen Tempo sauber ansprechen, d.h. wenn die richtige Einstellung von Ansatzformung, Luftführung und Zungenbewegungen gefunden sind, kann das Tempo gesteigert werden. Danach folgt die Aufgabe, die Doppelzunge mit den Fingerbewegungen zu koordinieren.
Koordinierung mit den Fingerbewegungen
Unser Hirn ist nicht gewohnt, die Fingerbewegungen mit der Silbe „gæ“ zu koordinieren. Hier habe ich lange nach einer guten Methode gesucht! Die beste Übung ist, auf Tonleitern jede Tonhöhe zweimal zu artikulieren: Dægæ dægæ...
- Beginne mit leichten Tonleitern z.B. C-Dur und F-Dur
- Artikuliere zuerst dægæ dægæ
- Artikuliere dann gædæ gædæ
- Spiele die Tonleitern im Wechsel zuerst legato und anschliessend mit Doppelzunge.
Diese Methode funktioniert. Ich habe mich mit Flötisten, Oboisten sowie Fagottisten ausgetauscht. Die Schwierigkeit bei uns ist die Grösse des Mundstückes und die Position des Blattes, mit welchem wir viel weiter im Mund drin artikulieren.
Legato
MR: Legato bedeutet einen kontinuierlichen Luftstrom. In der Vorstellung aber "Honig"! Honig ist immer gebunden. Das Fliessen des Honigs kann einen kleineren oder breiteren Durchmesser haben, aber bleibt immer gebunden, ohne Ende.
Intonation
Die Klarinette ist im unteren Chalumeau-Register tief (e, f), oben sind einige Töne zu hoch, einige zu tief. Die Vorstellung der runden Lippenform ist sehr hilfreich. e2, f2 und g2 sind im piano immer zu hoch. Die Ansatzöffnung und Atemstütze müssen entsprechend der Intonation modifiziert werden.
Flexibilität des Ansatzes
Wir dürfen den Mund nie einfach nur auf [um z. B. mit tieferer Intonation spielen zu wollen] oder zu [um etwas höher zu spielen] machen. Die ovale Form des Ansatzes muss immer ganz bewusst betont bleiben, nur die Öffnung ist etwas kleiner oder etwas grösser. So lässt sich verhindern, dass der Klang quasi nach hinten in den Rachen fällt und seine Form verliert.
Alternativgriffe
Wir haben für jeden Ton verschiedene Griffe. Die sogenannten Resonanzgriffe verstärken insbesondere bei den kurzen Tönen (g1, gis1, a1und ais1) die Klangfarbe einzelner Töne, wenn sie mit der nötigen Sensibilität im Ansatz angespielt werden. Man muss ein wenig suchen, um die Konstellation der Ansatzformung [kombiniert mit der entsprechenden Vokalformung und Atemstütze] zu finden. Dann kommen diese Griffe richtig zur Geltung. Ich empfehle, für jeden Ton mindestens fünf verschiedene Resonanzgriffe zu finden und die Sensibilität für die klanglichen Veränderungen zu entwickeln. Die oben beschriebene Technik – Erweitern der Ansatzöffnung bei gleichzeitigem Intensivieren der Atemstütze – lässt sich für Intonationskorrekturen anwenden.
Vokalformung
Ein weiterer Parameter, der für Intonationskorrekturen eingesetzt werden kann, ist die Vokalformung. Dunkle Vokale, wie „o“, haben eine tiefere, hellere Vokale, wie „i“, eine höhere Intonation zur Folge. Auch damit lässt es sich sehr gut arbeiten.
Arbeit mit dem Stimmgerät
Nehmen wir die f-moll Sonate von Brahms. Hier bewegt sich die Stimmführung auf kleinem Raum in einem grossen Stimmumfang. Ich arbeite so: Auf kritischen Tönen mit der Musik innehalten und [die Töne] optisch mit dem Stimmgerät kontrollieren. Die vorzunehmenden Korrekturen dürfen jedoch die Klangfarbe nie beeinträchtigen. Das erreicht man mit der oben beschriebenen Technik. Der Ansatz muss immer rund geformt bleiben, und die Atemstütze entsprechend angepasst werden.
Dynamik
Viele Leute möchten die Dynamik intensivieren und setzen dazu ungeeignete Körperbewegungen (Hochziehen der Schultern, Beugen des Rumpfes) ein. Der Effekt ist dann meist kontraproduktiv, der Klang verliert an Obertonreichtum und wirkt gepresst. Das einzige Mittel, mit dem wir ein an dynamischen Stufen reiches Spiel praktizieren können, ist eine flexible Luftführung. Grössere dynamische Stufen brauchen einen intensiveren und schneller fliessenden Luftstrom.
Klarinettistische Tradition
Meine Studienjahre verbrachte während der Zeit des Kommunismus. Ich hatte keinen guten Lehrer – weder menschlich noch pädagogisch – aber er war sehr dogmatisch was die Basis-Arbeit betrifft: Er verlangte konsequent lange Töne und Tonleitern. Mit 15 Jahren musste ich jeweils alle Tonarten in der Stunde zum Vorspielen bereit haben. Der Lehrer stellte das Metronom auf 120 und sagte: Fis-Dur! Wenn es mehr als drei Fehler gab, dann hiess es „Tschüss“ und die Stunde war beendet. Ich musste für die nächste Lektion zu Hause noch einmal alles durcharbeiten. Diese Methode ist übertrieben hart. Aber ich habe gearbeitet.
Danach hatte ich in Prag Unterricht bei Lehrern, die nur an die „Kunst“ dachten. Von einem guten Lehrer erwarte ich aber hohe Fachkompetenz auf didaktischer, methodischer und pädagogischer wie auch auf psychologischer Ebene. Dazu gehören auch menschliche Qualitäten. Ich hatte damals keinen Unterricht mit einem durchdachten Aufbau genossen. Es gab weder genau formulierte instrumentaltechnische Hinweise noch eine individuell aufgebaute und menschliche Lehrer–Schüler–Beziehung. Im damaligen Prag wurde die Ästhetik des Klarinettenspiels von der Blasmusiktradition ins Sinfonieorchester transferiert. Die klanglichen Möglichkeiten waren sehr limitiert. Man spielte mit viel Vibrato, jeder Einsatz zeichnete sich durch starke Zungenartikulation aus, und fast jedes Staccato wurde von einem Glissando begleitet.
Als ich ein Kind war, war Bohuslav Zahradník (1947-1987), einer der ersten Klarinettisten der Tschechischen Philharmonie, mein Vorbild. Er war schon ein bisschen moderner, spielte aber immer mit diesem sehr kurzen, brillanten Staccato und immer mit ein wenig Vibrato. Ich hatte erst mit 24 Jahren gute Lehrer. Vieles hatte ich mir zuvor autodidaktisch angeeignet. Als ich zum ersten Mal Guy Deplus gehört hatte, konnte ich kaum glauben, dass eine Klarinette so klingen kann.
Zur Zeit des Prager Frühlings haben wir dann auch Leute wie Alessandro Carbonare und Jean Philippe Vivier mit Stücken wie der Sonate von Denissow oder Berios Sequenza gehört. Sie waren im Wettbewerb hinter unseren Tschechischen Klarinettisten platziert. Das war 1990. Es gab aber immer noch viel Korruption in der Jury. Wir waren im Publikum und haben geschrien und gebuht, denn wir waren nicht einverstanden. Man wollte die „richtige Sache“ finden. So hatte man auch das Bestreben, allen Belangen der Musik auf den Grund zu kommen. Darum geht es mir auch heute noch.
HM: Danach hattest du Unterricht in Paris?
MR: 1989 konnte ich zum ersten Mal ins Ausland reisen. Ich war drei Monate in Paris im Ensemble intercontemporain. Ich arbeitete mit Michel Arrignon und Alain Damiens. Hier hatte ich zum ersten Mal verstanden, was Legatospiel heisst. Alain Damiens arbeitete mit mir vierzig Minuten am ersten Stück der Trois Pièces von Igor Strawinsky. Ich kann mich gut daran erinnern: Mein Zwerchfell war ganz blockiert. Dameins hat mich dazu gebracht, es zu aktivieren. Danach war ich in Basel bei François Benda und in New York an der Julliard School. Ich besuchte viele Meisterkurse bei vielen guten Leuten.
Als ich jünger war, wollte ich niemals Unterrichten, nur Spielen. Heute habe ich im Unterrichten eine grosse Passion gefunden.