Fingertechnik
Beiträge der Interviewpartner
- Michel Arrignon
- Paolo Beltramini
- François Benda
- James Campbell
- Philippe Cuper
- Alain Damiens
- Eli Eban
- Steve Hartman
- Sylvie Hue 1, 2
- Gerald Kraxberger
- Seunghee Lee
- Ernesto Molinari
- John Moses 1, 2, 3
- Pascal Moraguès
- Harri Mäki, 2, 3, 4
- Heinrich Mätzener 1, 2, 3
- Robert Pickup
- Frédéric Rapin 1, 2, 3, 4, 5, 6
- Ernst Schlader
- Thomas Piercy
- Milan Rericha 1, 2
- David Shifrin 1, 2, 3
- Richard Stoltzman
- Jérôme Verhaeghe
- Michel Westphal 1, 2, 3, 4
Grundstellung der Hände und der Finger
Jost Michaels (2001) nennt in seinem Lehrwerk Methodische Schule der klarinettistischen Grifftechnik[1] auf S. 16 zwei Prinzipien, die dem Studium der Fingertechnik zu Grunde liegen müsssen:
„Sie [die ausschliesslich auf die Grundstellung der Finger bezogenen Studien] sollen nicht nur die Arbeit an deren möglichst gleichmässigen und unaufwendigen Bewegungen dienen, sondern zugleich der dafür wichtigsten Voraussetzung - nämlich dazu, dass sie auch wenn sie nicht aufliegen, dennoch ihre Positionen über den für sie bestimmten Tonlöchern in einheitlich nicht zu weiten und vor allem nicht verschobenen Abständen beibehalten.“
Historische Stationen
Parallel zur Entwicklung von der Drei-Klappenklarinette zu den modernen Instrumenten mit 17 und mehr Klappen veränderte sich jeweils die Fingertechnik. Diese Veränderungen beeinflussten auch die anderen Parameter der Grundtechnik, insbesondere den Ansatz und die Haltearbeit. Bei Instrumenten ohne Daumenstütze rechts verwendete man "Stützfinger" der rechten Hand, um die Haltearbeit zu erleichtern. Gleichzeitig liessen sich dadurch Resonanz und Intonation einzelner Töne verbessern. Mit dieser Technik der Haltearbeit liessen sie sich die Klarinetten auch gut mit Dopellippenansatz spielen. Der Ansatz war kaum in stabilisierender Funktion in die Haltearbeit involviert.
Die Beweglichkeit des linken Daumens verband sich mit den noch heute bekannten Herausforderungen: der Daumen links hat als einziger Finger zwischen vier verschiedenen Grundpositionen zu wechseln: geschlossenes/offenes g1, mit oder ohne Öffnen der Überblasklappe.
Amand Vanderhagen 1785
Von den Anweisungen Jost Michaels (1999)[1] (siehe oben) lässt sich der Bogen zurück zu Amand Vanderhagen (1785)[2] spannen, der in seiner "Méthode" dieselben Prinzipien betreffend Positionen und Bewegungen der Finger vertritt:
„Le pouce de la main gauche doit toujours être prêt à prendre la clef, ou à boucher le trou, il ne doit en conséquence faire que des très petits mouvements: il en est de même du doigté en général; il ne faut lever les doigts qu'à très peu de distance de l'instrument, et toujours perpendiculairement. Les deux mains doivent toujours pencher vers la palle de la Clarinette. Aucun des doigts ne doivent se toucher afin de pouvoir cadencer librement; il faut que lorsqu’un doigt et levé ou même plusieurs, qu' ils restent perpendiculairement au dessus des trous qu'ils doivent reboucher, car en les retirant comme font beaucoup d'écoliers, on a toujours de la peine à retrouver les trous et cela empêche l'exécution.“
„Der Daumen der linken Hand soll immer bereit sein, die [Überblas‐]Klappe zu öffnen oder wieder zu schliessen. Er soll zu diesem Zweck nur sehr kleine Bewegungen ausführen. Dies gilt gleichermassen bei allen Fingersätzen: man soll die Finger nur in sehr kleinen Bewegungen von der Klarinette, rechtwinklig über den Tonlöchern, anheben. Die beiden Hände sollen sich etwas in Richtung des Fusses [Schalltrichters] der Klarinette neigen. Die Finger dürfen sich nicht berühren, damit sie ungehindert und frei trillern können. Beim Heben eines oder mehrerer Finger ist darauf zu achten, dass sie sich immer senkrecht über den Tonlöchern, die sie wieder schliessen müssen, befinden. Denn wenn die Finger in gehobener Position zurückgebogen werden, was bei vielen Schülern zu beobachten ist, hat man immer Mühe, die Tonlöcher präzise zu decken. Dies erschwert das Spiel.“
Iwan Müller 1812
Die "clarinette omnitonique", von Iwan Müller (1812) ermöglichte Legatoverbindungen zwischen allen Tonschritten, übertrug aber dem Daumen der rechten durch eine neue Daumenklappe und dem kleinen Finger der linken Hand durch eine Klappe auf der Rückseite des Instrumentes neue Aufgaben. Der Daumen konnte nur noch bedingt als "Haltefinger" eingesetzt werden, der kleine Finger rechts nur noch bedingt als Stützfinger. Dies hatte erhebliche Veränderungen der Haltearbeit zur Folge, was sich auch auf die Ansatztechnik auswirkte. Das könnte auch ein Grund gewesen sein, weshalb sich um 1820 dieses System bei einer Kommission von Professoren des Conservatoires in Paris nicht auf die erhoffte Akzeptanz stiess. Insbesondere die neue Klappe für den rechten Daumen brachte neue Gewichtsverteilungen des Instrumentes auf die Hände mit sich und veränderte die Technik der Haltearbeit. Um genügend Stabilität zu finden, erwies sich ein "Untersichblasen" ohne Doppellippenansatz als praktischer. In Paris wurde aber weiterhin (bis ca. 1920/30) am Doppellippenansatz festgehalten.
Die Weiterentwicklung der Iwan Müller-Klarinette führten um 1860 über die Baermann-Ottensteiner-Klarinette (siehe Oskar Kroll (1965)[3] zum heute in Deutschland verbreiteten Öhlersystem.
Hyacinthe Klosé und Alfons Buffet 1839
Der Flötist Thobald Böhm ermöglichte durch die Entwicklung der Ringklappen (1832), mit einer Fingerbewegung zwei Tonlöcher zu schliessen, und somit eine diatonische Tonleiter ohne Gabelgriffe zu spielen. Hyacinthe Klosé und Alfons Buffet übertrugen diese Errungenschaften Theobald Böhms auf die Klarinette (siehe Ridley, 1986)[4]. Gleichzeitig wurden die schwierig zu bedienenden Klappen auf der Rückseite des Instrumentes (für die Legatoverbindungen der langen Tönen e/h bis fis/dis) durch zusätzliche Klappen für die kleinen Finger links und rechts ersetzt, was nun auch bei diesen Tonverbindungen virtuosere Beweglichkeit ermöglichte. Auf dem heutigen Öhler-System, dass aus Weiterentwicklungen der Iwan Müller und Baermann-Ottenstiener-Klarinette hervorging, müssen alle Finger beider Hände unterschiedliche Positionen zum Bedienen verschiedener Klappen „kennen“. Das Böhmsystem erspart immerhin dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand ausschliesslich zwei Positionen: geöffnet oder geschlossen.
Zusammenfassungen aus den Interviews
Fingertechnik gilt als eine der zentralen instrumentaltechnischen Fertigkeiten. Es geht dabei um Kontrolle und Koordination der Bewegungsabläufe von Fingern und Händen. Die Fingertechnik ermöglicht die präzise Gestaltung rhythmischer Figuren und die Regelmässigkeit im musikalischen Fluss. Sie befähigt zu virtuosem Instrumentalspiel, wird aber auch als entscheidender Faktor für die Qualität des Legatospiels langsamer Passagen diskutiert.
Während die Zielsetzungen auf musikalischer Ebene einfacher formulier- und kontrollierbar sind, stellt die Beschreibung körpergerechter und somit effizienter Haltungs- und Bewegungsmuster grössere Herausforderungen an Lehrer und Lernende.
Technik und Interpretation
Michel Arrignon stellt im Unterricht bei schnellen, technisch schwierigen Stellen, die nicht gelingen, die Frage: «könntest du diese Stelle singen?» Gibt man den technisch schwierigen Stellen einen musikalischen Sinn, d.h. ist man sich der musikalischen Phrasierung und rhythmischen Akzentuierung bewusst, ist das eine grosse Lernhilfe. Auch die Übungen der Grundtechnik, Tonleitern, Akkorde und Etüden, sollten immer in einer musikalisch gestalteten Figur erscheinen.
Alain Damiens lässt zu den Tonleitern oder zu Etüden gleichzeitig den Grundton oder andere Intervalle singen. So besteht die Gefahr nicht, an der Technik «comme un cheval», ohne musikalischen Bezug, zu arbeiten.
Philippe Cuper kann sich an den Unterricht bei Guy Dangain erinnern, der ihn für die Aufnahmeprüfung ans conservatoire vorbereitete: er musste während etwa einem Jahr jeden Tag bis zwei Stunden mit Tonleiter- und Akkordstudien verbringen. Philippe empfiehlt das auch heute noch jedem Studenten, der Ambitionen für eine Berufskarriere hegt.
Alain Damiens erfindet anhand der aktuell zu erarbeitender Literatur eigene Etüden und für Michel Westphal findet der letzte Schliff der Technik anhand der gespielten Literatur statt.
Frédéric Rapin setzt auf die Eigenverantwortung der Studierenden, die technischen Übungen, Tonleitern und Akkordstudien selbständig zu Hause vorzunehmen. Nur bei offensichtlichen Defiziten braucht es jede Stunde einen Technikparcours. Wie Paolo Beltramini verbindet er tonal gebundene Stellen der aktuell gespielten Literatur mit den ihnen zugrundeliegenden und Tonleiter- und Akkordstrukturen und rekapituliert diese im gesamten Tonumfang.
Anfängerunterricht
Sylvie Hue betont, dass ein Kind möglichst schnell Melodien spielen möchte. Danach soll sich der Unterricht auch unbedingt ausrichten. Das Spiel in einer Blasmusik ist enorm wichtig und fördert Blattspiel und rhythmisches musizieren (siehe auch Alain Damiens). So wird sich auch die Motivation für Tonleiter- und Akkordstudien einstellen, denn das bringt die Schüler in grossen Schritten vorwärts und man gewinnt enorm viel Zeit. So konzipiert sie auch ihr Unterrichtswerk L'Apprenti clarinettiste (2001)[5].
Seunghee Lee vergleicht das Tonleiter- und Akkordstudium und Etüden mit dem Lernen des Alphabets: um fliessend Lesen zu können, beginnt jedes Kind mit dem Lernen der Buchstaben, dann folgen Silben, Wörter und schliesslich ganze Sätze. Erst der Profi kann sich auch direkt mit dem aktuellen Stücken einspielen und daraus einzelne Stellen zu Etüden umfunktionieren.
Klangproduktion vor Fingertechnik
François Benda, James Campbell, Milan Rericha, Richard Stoltzman und Michel Westphal nennen als Voraussetzung für eine gut funktionierende Fingertechnik einen soliden Ansatz und eine gut fundierte Luftführung. Eine noch so brillante Fingertechnik alleine kann musikalisch nicht befriedigend sein. Klang, Artikulation und Phrasierung müssen vor jedem Einsatz vorbereitet und bewusst gestaltet sein.
Frédéric Rapin misst dem Tonleiter- und Akkordstudium auch grossen Wert bei, verbindet aber die Arbeit an der Fingertechnik und Geläufigkeit immer mit der Tonbildung. Er geht in kleinen Schritten vor und lässt die Tonleitern zuerst nur im Umfang einer Oktave spielen, mit Fokus auf ausgeglichenen Klang und Dynamik, als wäre es ein Konzertvortrag. Erst danach folgen Variationen mit verschiedenen Rhythmen, Artikulationen und Tempi.
Leicht gebogene, oder gestreckte Finger?
Um beim Spielen eine natürliche Form der Hand zu haben, schlagen François Benda, Harri Mäki und Ernesto Molinari folgendes Procedere vor: wenn man die rechte Hand neben dem Körper locker fallen lässt, ist die Hand entspannt, die Finger sind leicht gebogen. Die Klarinette kann nun mit der linken Hand waagrecht in die Hand gelegt werden, so übernimmt man die natürliche Hand- und Fingerpositionen für das Klarinettenspiel. Die Hand nimmt eine ideale Form ein, wenn sie das gegenüberliegende Handgelenk locker umfasst (Ernesto Molinari).
Sylvie Hue legt grossen Wert darauf, dass die Finger in leicht gerundeter Form auf der Klarinette aufliegen. Bei Anfängern muss besonders darauf geachtet werden, dass der Zeigfinger rechts das Gewicht der Klarinette nicht auf der Es Klappe abstützt. Die Kombination von Mundstück und Blatt sollte möglichst leicht sein und nicht unnötig Kräfte binden, welche im ganzen Körper zu Spannungen führen.
Heinrich Mätzener achtet darauf, dass von Anbeginn körpergerechte Haltungen von Hand und Finger gefunden werden. Werden ungünstige Haltungen antrainiert, müssen diese in mühseliger Arbeit wieder umgelernt werden. Er nimmt weiter Bezug auf Ulrich Dannemann, Isometrische Übungen für Geiger. (1982) [6] und empfiehlt, falls nötig ein Krafttraining für die Hand. Die Bewegungen sollten immer mit leicht gebogenen Fingern aus dem Fingergrundgelenk ausgeführt werden.
Milan Rericha hält auch leicht gebogenen Finger als ideale Ausgangsposition, würde jedoch bei einem Studenten, der mit gestreckten Fingern eine gute Geläufigkeit hat, nicht darauf bestehen, dies zu ändern.
Für Milan ist es wichtig, dass sich die Finger spielerisch, wie auf einer Klaviertastatur bewegen; so kann auch die Haltearbeit des Klarinettengewichtes besser erfüllt werden.
Michel Westphal beobachtet neben der Gelenkstellungen den Hand auch diejenigen der Schulter und der Arme, um schliesslich die Hände in optimaler Form auf der Klarinette platzieren zu können. Je nach Grösse der Arme und Hände sind die Konstellationen unterschiedlich zu wählen. Er stellt fest, dass die Anweisung, mit leicht gebogenen Fingern zu spielen, [zumindest im ersten Moment] zu Verspannungen und zu schlechteren Resultaten führen kann.
Individuell unterschiedliche Voraussetzungen
Individuell unterschiedle Hand- und Finger Ausmasse bedingen unterschiedliche Bilder einer optimalen der Handposition. François Benda: Es ist auch sinnvoll, je nach Handgrösse Anpassungen am Instrument vorzunehmen, so z.B. bei einer sehr grossen Hand eine Unterlage unter der Daumenstütze, welche die Wirkung eines grösseren Durchmessers der Klarinette hat. Bei besonders kurzen Fingern lohnt es sich, die Hebel für die kleinen Finger vom Instrumentenbauer verlängern zu lassen.
Flexibilität von Handgelenk und Unterarm
François Benda und Heinrich Mätzener empfehlen: Besonders die Zeigefinger l. und r. brauchen zum Bedienen zusätzlicher Klappen – rechts das es/b2, links die a- und gis-Klappe eine flexible Handposition. Es wäre nicht ökonomisch, diese Klappen nur mit Bewegungen der Finger zu bedienen. Um diese Handpositionen kennenzulernen, können alle Tonlöcher geschlossen bleiben, während die Hand abwechslungsweise alle verschiedenen Positionen zum Bedienen der einzelnen Klappen einnimmt. Triller mit den 4. Fingern recht oder links lassen sich auch aus einer Drehung des Unterarmes ausführen. Als langsame Bewegung gleicht dies dem Trinken aus einem Glas, als Triller den Tremolo-Oktaven beim Klavierspiel. Die anderen Finger bleiben liegen, und auch bei einer kleinen Drehbewegung auf den Fingerkuppen bleiben die Tonlöcher geschlossen.
Die Ausführung der Fingerbewegungen
Je nach Art der Fingerbewegung, ob kräftig, gross und schnell, oder eher klein, präzise und geschmeidig, ändert sich der musikalische Ausdruck. Für das Legato eignen sich Fingerbewegungen, vergleichbar mit einer schleichenden Katze, für eine brillantes, virtuoses Spiel können die Bewegungen auch etwas sportlicher sein, jedoch immer klein und präzise.
François Benda arbeitet mit schnellen Fingerbewegungen, die kurz vor dem Schliessen der Tonlöcher abgebremst werden.
Als Legatoübung lässt Alain Billard seine Studenten mit den Fingern ein Glissando ausführen; die Tonlöcher werden dabei so langsam geöffnet und geschlossen, dass Mikrointervalle entstehen. Diese Übung trainiert gleichzeitig die Flexibilität der Luftführung.
Eli Eban beruft sich auf Robert Marcellus und wählt die Art der Fingerbewegungen entsprechend dem Charakter der Musik. In einem Adagio könnend die Bewegungen etwas grösser und langsamer sein, in schnellen Passagen springen die Finger in kleinen, rhythmisch präzisen Bewegungen von Ton zu Ton (siehe auch Daniel Bonade, (1962)[7].
John Moses bezieht sich direkt auf Daniel Bonade: beim Legatospiel holt er mit den Fingern zuerst in der Gegenrichtung aus, um sie dann langsam auf die Klarinette zu bringen. Er vergleicht das Schliessen der Tonlöcher mit dem Zusammendrücken eines Tennisballs, im Gegensatz zu einer Fingerbewegung, die mit einem perkussiven Schreibmaschinen-Tippen vergleichbar wäre.
Harri Mäki führt dieses Prinzip der «Legatofinger» bei langsamen Passagen auch in der Gegenrichtung aus: beim Heben eines Fingers presst er diesen zuerst mit leichter Kraft in das Instrument.
David Shifrin relativiert den Sinn der «Legatofinger-Technik», das Anheben der Finger, bevor sie das Tonloch langsam schliessen. Ein geschmeidiges Legato ist nicht nur eine Frage der Fingertechnik, vielmehr ist es wichtig, die Luftführung und Vokalisierung «zwischen den Tönen» bewusst einzusetzen und nicht erst auf die Veränderungen bei einer neu eintretenden Tonhöhe zu reagieren. Die besten Resultate erreicht er mit einer (nicht zu) kleinen und kräftigen, sehr bestimmten, mit dem Greifen auf einer Cellogriffbrett vergleichbaren Bewegung. Die Finger dürfen jedoch nie auf die Klarinette schlagen, sollten jedoch etwas in ihre Position gedrückt werden, wenn sie einen Tennisball drücken würden. Dabei sind die Finger in einer leicht gerundeten Haltung.
Pascal Moraguès empfiehlt auch für das Legato, wie Milan Rericha grundsätzlich die kleinstmöglichen Fingerbewegungen.
Für Robert Pickup ist es sehr wichtig, immer mit möglichst kleinen Finger-Bewegungen zu spielen. Die Finger befinden sich bei geöffneter Position immer exakt über den Tonlöchern. Es gibt grundsätzliche zwei Fingerbewegungen, die «Legatofinger» und die «artikulierenden Finger». Der Unterschied in der Bewegung liegt darin, dass ich beim Legatospiel bei leicht gebogenen Fingern die Bewegung im Fingergrundgelenk abspielt. Beim «artikulierenden Fingern» liegt der Aufmerksamkeitsfokus auf den Fingerkuppen. Dadurch stabilisiert sich die gebogene Fingerform etwas deutlicher und die Fingerkuppen treffen «artikulierend» auf dem Instrument auf.
Thomas Piercy lernte seine Technik mit über vierzig Jahren um: grosse, teils unkontrollierte Bewegungen transformierte er in möglichst kleine, präzise Bewegungen genau über den zu bedienenden Klappen und Tonlöchern. Beim Üben mussten jeweils die kleinen Finger auf der F- bzw. E-Klappe liegen bleiben, wenn sie nicht gebraucht wurden (siehe auch Flexibilität von Handgelenk und Unterarm. Diese Umstellung war sehr aufwändig, lohnte sich aber auf jeden Fall: nicht nur die Fingertechnik, das gesamte Spiel entwickelte sich zu einem höheren Niveau.
Michel Westphal nutzt je nach Stil die Möglichkeiten, mit den Fingern geräuschhaft auf die Klarinette zu schlagen, oder sie sehr geschmeidig und sanft zu bewegen.
Frédéric Rapin vergleicht die Fingerbewegungen mit den feinen Bewegungen beim Artikulieren mit der Zungenspitze und legt den Fokus bei den Fingerbewegungen auch in die Peripherie, auf das vorderste Fingergelenk. Ausschliesslich mit diesen Gelenken lässt sich natürlich nicht spielen. Legt man jedoch den Aufmerksamkeitsfokus hierhin, kriegen die Finger eine gewisse Stabilität, die Fingerbewegungen gewinnen an Präzision und das akustische Ergebnis an Klarheit. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Schliessen der Tonlöcher, das Heben der Finger ist einfacher und muss nicht speziell geübt werden. Auch beim Legatospiel ergibt diese Technik gute Resultate. Für die Entwicklung einer virtuosen Fingertechnik empfiehlt Frédéric das Üben von Trillern.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Robert Pickup, der mit der Fingerbewegung unterschiedliche Zungenartikulationen nachahmen kann: bei technisch brillanten Stellen liegt der Fokus der Sensibilität auf den Fingerkuppen, bei Legato-Stellen sind die Finger entspannter und die Bewegungen sind aus dem Finger- Grundgelenk gesteuert.
Daumenstütze, Position und Kraft des rechten Daumens
Siehe auch Haltearbeit
Viele der Interviewpartner wie Alain Damiens, Sylvie Hue, John Moses, David Shifrin, Jérôme Verhaeghe wählen eine möglichst hohe Position der Daumenstütze, so dass sich Zeigefinger und Daumen der rechten Hand in etwa gegenüberliegen. Da heute die meisten Klarinetten eine verschiebbare Daumenstütze haben, lässt sich die Position den individuellen Bedürfnissen anpassen. Es lohnt sich auch, falls nötig, weiter oben neue Löcher für eine optimale Position der Daumenstütze bohren zu lassen. Machen sich Schmerzen im rechten Daumen bemerkbar, muss sofort pausiert werden, Hand-Form und Daumenposition müssen überprüft werden.
Alain Damiens vergleicht die Position des rechten Daumens mit dem Halten eines Bleistiftes: die Fingerkuppen von Zeigefinder und Daumen liegen einander gegenüber. Mit einem nach unten gestreckten Daumen strecken und verspannen sich unwillentlich die übrigen Finger der Hand. Alle Interviewpartner empfehlen, dies zu kontrollieren.
Bei zu tiefer Daumenstütze kann es schwieriger werden, die Seitenklappen mit dem Zeigefinger zu bedienen David Shifrin. Ziel sollte es sein, mit den kleinstmöglichen Bewegungen alle Griffe, auch diejenigen mit den Seitenklappen rechts, ausführen zu können.
François Benda und Pascal Moraguès weisen darauf hin, dass sich die Gewichtsverteilung des Instrumentes je nach Position der Daumenstütze verändert. Ideal ist die Position der Daumenstütze, mit welcher sich die Klarinette auf dem Daumen balancieren lässt. Ist sie zu weit oben, kann das Instrument zu viel Druck gegen die oberen Zähne ausüben.
Sylvie Hue: der Daumen sollte ungefähr auf der Höhe des Zeigefingers liegen, und nicht nur die Finger, auch die Innenseite der Hand sollte eine schöne Wölbung formen.
Wie Sylvie Hue empfiehlt auch Michel Westphal ein "Krafttraining" für den rechten Daumen, bei gleichzeitig locker bleibenden Fingern zwei bis fünf. Sylvie würde es zudem sehr begrüssen, wenn der Instrumentenbau auch Mittel zur Gewichtsreduktion entwickeln würde (leichtere Klappen kleinere Wandungen), sowie eine Daumenstütze, welche die Hand in einer natürlichen Form stabilisieren könnte.
Gerald Kraxberger ergänzt, dass die Daumenstütze nicht zu tief eingestellt sein sollte, damit das erste Daumen-Gelenk in seiner körpergerechten Position belastet wird. Bei einem Krafttraining sollten Agonist und Antagonist immer in gleichem Masse trainiert werden. Besonders bei Trillern ist das Öffnen, die Bewegung weg vom Instrument genauso wichtig, wie das Schliessen der Tonlöcher und Klappen.
Ernst Schlader betont die Notwendigkeit von Bewegung, Sport und Krafttraining für den ganzen Körper. Dies sind wichtige Voraussetzungen für eine technische Leichtigkeit auf dem Instrument und das schafft einen Ausgleich zum stundenlangen Üben und Arbeiten am Computer.
James Campbell, Eli Eban und Heinrich Mätzener achten auf eine leicht nach innen gebogene Form des Daumens. So nehmen auch die übrigen Finger eine leicht gerundete Form ein. Ein nach unten gestreckter Daumen würde automatisch auch gestreckte, nahe beieinander liegenden Finger provozieren und die Hand in eine ungünstige Spannung versetzen. Bildet der leicht nach innen gebogene Daumen zusammen mit dem Zeigefinger ein nicht ganz geschlossenes Oval, bringt er die Hand insgesamt in eine günstige Position. Beim Halten der Klarinette ist ein gutes Polster unter der Daumenstütze sehr wichtig.
Bei den Kräftigungsübungen von Greg Mesplié (siehe Abbildung links und Video) muss man sorgfältig darauf achten, keine Gelenke durchzudrücken. Es geht darum, die Gelenke mit den Muskeln zu stabilisieren, diese Kraft ist die Grundlage für ein lockere Geläufigkeit. Zu empfehlen sind auch die Kräftigungsübungen für Pianisten von Erwan.
Frédéric Rapin und François Benda legt zuerst alle Finger auf die Klarinette. Danach kann sich der Daumen seine bequemste Position finden. Frédéric wählt für sich persönlich eine ziemlich hohe Position der Daumenstütze, möchte dies aber nicht allgemein verbindlich festlegen, sondern die individuellen Unterschiede von Handgrösse und -Form berücksichtigen.
Michel Westphal würde die Position der Daumenstütze nicht überbewerten, je nach individuellen Voraussetzungen wird sie unterschiedlich platziert. Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Instrumenten (Bassetthorn, Bassettklarinetten mit Daumenklappen, historische Klarinetten) bedingt eine höhere Position der Daumenstütze, um die Daumenklappen bedienen zu können.
Arbeiten an technisch schwierigen Stellen
Dem Grundprinzip von langsam zu schnell folgend zerlegt David Shifrin schwierige Stellen in kleinere Tongruppen und übt diese in verschiedenen Tempi und Rhythmen. Unser Hirn kann längere, schnellere Passagen nicht Ton für Ton reproduzieren. Solche Stellen müssen in aufeinanderfolgende Bewegungsabläufe von kürzeren Tongruppen zerlegt werden, um die ganze Stelle danach als Abfolge von kleineren Tongruppen zu reproduzieren. In längeren und kürzeren Notenwerten zu Mustern (Pattern) zusammengefasste und rhythmisierte Tongruppen werden oft wiederholt bis die Bewegungsabläufe reflexartig abgespielt und aneinander gereiht werden können.
John Moses empfiehlt, schwierige Stellen in verschiedenen Tempi, Rhythmen aber auch in verschiedenen Transpositionen zu arbeiten, um dann wieder zurück zur originalen Form zu kommen, die dann leichter erscheint.
Frédéric Rapin besteht darauf, dass vor der Arbeit an der Geschwindigkeit an technisch schwierigen Stellen die Passage in einer optimalen Klangqualität ausgeführt werden können.
Harri Mäki “kopiert” die Geläufigkeit des beweglichsten Fingers: die Bewegung eines langsameren Fingers wird dem schnellen gegenübergestellt, bis beide die gleich schnelle Geschwindigkeit ausführen können.
Milan Rericha erarbeitet eine gleichmässige Geläufigkeit anhand aller möglichen Triller. Besonderes Augenmerk gilt dem Triller g-a/d’’-e’’ (rechte Hand). Siehe dazu auch François Benda.
Erlangen der Geläufigkeit
Checklist
Beim Üben von Fingertechnik empfiehlt es sich folgendes zu beachten:
- Die Finger bleiben immer auf oder direkt über den Klappen / Tonlöchern
- Die Finger machen immer die kleinstmöglichen Bewegungen
- Hartes Aufschlagen der Finger auf dem Instrument haben akzentuierte Tonwechsel zur Folge
- Alle Gelenke sind leicht gebogen, keine durchgestreckten Finger zulassen!
- Den Daumen der rechten Hand nach Möglichkeit leicht biegen
Eines der wichtigsten allgemeinen Lerngesetze zur Erlangung spieltechnischer Fähigkeiten, die den professionellen Anforderungen standhalten können, ist die Anzahl Stunden, die ein angehender Berufsmusiker bis zu seinem 20. Lebensjahr als „üben“ abbuchen kann. Dies belegt die Studie von Malcom Gladwell[8]: 10'000 Stunden bis zum 20. Lebensjahr gelten als Voraussetzung für eine Spitzenkarriere als Musiker. Wer nur 4000 Stunden mit Üben verbracht hat, muss auf eine Überfliegerkarriere verzichten. Natürlich spielt nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität des Übens - das beinhaltet auch eine körpergerechte Fingertechnik - eine wichtige Rolle.
Literatur
- Christoph Wagner, Ulrike Wohlwender: Hand und Instrument. Musikphysiologische Grundlagen. Praktische Konsequenzen. Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 2005
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Michaels, Jost, and Allan Ware. 2001. Methodische Schule der klarinettistischen Grifftechnik Ausgabe für Böhm-System = Systematic approach to clarinet finger technique : edition for Boehm clarinet. Frankfurt am Main: Zimmermann.
- ↑ 2,0 2,1 Amand Vanderhagen: Méthode Nouvelle et Raisonnée pour la clarinette. Boyer, Paris, 1785
- ↑ [1], zit. nach: Erdt, Robert. 2010. Der Münchner Klarinettenvirtuose Carl Baermann (1811 - 1885) als Pädagoge, Klarinettist und Komponist zum Einsatz der Klarinette im 19. Jahrhundert und ihrer didaktischen Vermittlung. Zugl.: München, Univ., Diss., 2009.
- ↑ Ridley, E. A. K. "Birth of the 'Boehm' Clarinet." The Galpin Society Journal 39 (1986): 68-76. Accessed August 20, 2020. doi:10.2307/842134.
- ↑ Hue, Sylvie (2001). L'Apprenti clarinettiste, Manuel pratique pour débutant. Vol.1&2. Combre, Paris
- ↑ Ulrich Dannemann: Isometrische Übungen für Geiger. Braun, Duisburg 1982
- ↑ Bonade, Daniel. 1962. The clarinetist's compendium: including method of staccato and art of adjusting reeds. Kenosha, Wis: Leblanc Publications. S.2
- ↑ Malcom Gladwell: Outliers: The Story of Success. Little, Brown and Co., New York 2009.