Ansatz, Ansatzformung, Embouchure: Unterschied zwischen den Versionen
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(siehe auch Ralph McLane (1950) in [https://rharl25.wixsite.com/clarinetcentral clarinet central] | <br> | ||
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* Klangfarbenwechsel lassen sich einfach realisieren. | * Klangfarbenwechsel lassen sich einfach realisieren. |
Version vom 1. März 2021, 14:29 Uhr
Während das Wort Embouchure in französischer und englischer Sprache (ital. imboccatura, span. embocadura) das aktive „Umhüllen“ des Mundstückes mit den Lippen betont, impliziert das deutsche Wort Ansatz zusätzlich das Ansetzen des Instrumentes an den Mund durch die Haltearbeit. Die Ansatzformung bestimmt massgeblich die Qualität von Toneinsatz und Ansprache, Artikulation, Legato, Klangfarbe und den Umfang der Dynamik. Die Art der Ansatzformung entscheidet über die Ausdauer beim Spielen eines Blasinstrumentes. Der Ansatzdruck beeinflusst die Intonation.
Beiträge der Interviewpartner
- Michel Arrignon
- Paolo Beltramini
- François Benda
- Alain Billard
- James Campbell
- Philippe Cuper 1, 2
- Alain Damiens
- Eli Eban
- Steve Hartman
- Sylvie Hue
- Gerald Kraxberger
- Seunghee Lee
- Harri Mäki
- Heinrich Mätzener
- Ernesto Molinari
- Pascal Moraguès
- John Moses
- Thomas Piercy
- Frédéric Rapin
- Milan Rericha
- Ernst Schlader
- David Shifrin
- Richard Stoltzman
- Jérôme Verhaeghe
- Michel Westphal
Historische Quellen
Die heute gebräuchliche Ansatztechnik, bei der das Blatt auf der Unterlippe liegt und die oberen Zähne das Mundstück berühren, hat eine lange Entwicklung hinter sich. Wissen und Experimentieren mit den früheren Formen der Ansatztechnik erweitert die Flexibilität aller am Ansatz beteiligten Bereiche. Die Position des Unterkiefers, die Form und Spannung der Lippenmuskulatur, die Form und Position der Zunge sowie die Ausformung der Mundhöhle werden ins Bewusstsein gerückt.
Gianluca Campagnolo (2019)[1] gibt einen Überblick über die verschiedenen Ansatztechniken, wie sie in den Klarinetten-Methoden des ausgehenden 18. und des 19. Jh. dokumentiert sind. Er fasst zusammen, dass zu Beginn des 19. Jh. die Frage "Blatt nach oben, maxillarer Ansatz" oder "Blatt nach unten, mandibularer Ansatz" diskutiert wurde. Diskussionen um diese Fragestellung wurden in Italien bis in die 20-er Jahre des 20.Jh geführt, siehe Della Giacoma, in Campagnolo 2019[1].
In der zweiten Hälfte des 19. Jh. etablierte sich die Spielweise mit Blatt nach unten, und die Diskussionen drehten sich um die Frage "Einfacher Ansatz" oder Doppellippenansatz". Seit ca. 1945 sind Doppellippenansatz-Spieler*innen nur noch ausnahmsweise anzutreffen. Bei den Diskussionen und die "richtige" Ansatztechnik wurden Argumente wie Klangqualität, Klarheit und Variabilität der Artikulation sowie Freiheit der Fingertechnik ins Feld geführt. Auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen des Instrumentenbaus wurde die eine oder andere Spieltechnik favorisiert.
„Übersichblasen" - maxillarer Ansatz
Abbildungen in "Traités" und "Méthodes" des 18. Jh. bestätigen, dass bis ca. 1810 die Klarinette mit nach oben gerichtetem Blatt, so dass es beim Anblasen die Oberlippe berührte, gespielt wurde (Hoeprich 2009)[2]. Entsprechend der Spielweise von Oboe und Fagott - oft spielten diese Musiker auch Klarinette - war dies die naheliegende Technik: Mundstück und Blatt wurden von Ober- und Unterlippe umhüllt (siehe Michel Blazich, 2014)[3]. Die Mundstücke der damaligen Instrumente waren auch deutlich schlankerer Bauweise, und die Buchsbaum-Instrumente mit nur fünf Klappen hatten nicht das Gewicht einer modernen Klarinette, so dass sich ein Doppellippenansatz als unproblematisch erwies.
Diese Anblasart, in den historischen Unterrichtswerken „Übersichblasen“, „Obersichblasen" (Pierson 2018)[4] oder „Ober dem Kopfe" (Joseph Fröhlich, 1811)[5] genannt, wird in der Fachliteratur (Heinz Becker (1978)[6] auch als maxillarer Ansatz bezeichnet (von lateinisch Maxilla, der Oberkiefer).
Der maxillare Ansatz beeinflusst die Zungenform und -Stellung wie auch die Ausformung der Mundhöhle: um den äussersten Rand des Blattes berühren und so artikulieren zu können, muss sich die Zungenspitze nach vorne oben richten. Bliebt die Zunge in ihrer natürlichen Position, berührt sie beim Artikulieren nur das Mundstück und die Schwingung des Blattes wird nicht unterbrochen (siehe Artikulation). Die nach vorne-oben gerichtete Zungenposition löst eine muskuläre Verkettung aus, die den Rachen öffnet und das Volumen der hinteren Mundhöhle vergrössert. Joseph Fröhlich (1811) schätzt die so gewonnenen klanglichen Vorteile. Die Schwierigkeit, mit der Zunge zu artikulieren, empfiehlt er durch das Artikulieren "mit der Brust" (mit einzelnen Luftstössen) zu umgehen.
Das „Übersichblasen“ wurde im ausgehenden 18. Jh. in Paris bis in die 1820-er gelehrt. Amand Vanderhagen (1785)[7], Frédéric Blasius (1796)[8] und Jean-Xavier Lefèvre (1803)[9] veröffentlichten umfassende Unterrichtswerke.
„Il faut appuyer le bec sur la lèvre inférieure, couvrir l’anche de la lèvre supérieure, sans que les dents y touchent en aucun cas car les dents ne doivent que soutenir les lèvres et leur donner la force nécessaire pour pouvoir pincer dans les tons hauts.“
„Der Schnabel sollte gegen die Unterlippe gepresst, und das Blatt mit der Oberlippe bedeckt werden. Die Zähne dürften das Blatt unter keinen Umständen berühren. Die Zähne müssen die Lippen nur stützen und ihnen die nötige Kraft geben, um die hohen Tönen erreichen zu können.“
In Italien setzen die Klarinettisten die Tradition des „Übersichblasen“ fort und die Methode hielt sich bis in die Mitte des 20. Jh. Ferdinando Busoni (1866-1925)[10], der Vater der Komponisten Ferrucio Busoni, hielt das „Übersichblasen“ für das einzig Richtige, da der Klang im Kontakt mit der schwächeren Oberlippe weit modulationsfähiger und weicher, die Möglichkeiten der Schattierungen grösser und die Intonation reiner war. Wichtigste Vertreter der dem Bel Canto nahe stehenden „Neapolitanischen Schule"[11] sind Ferdinando Sebastiani[12] (1803-1860), und sein Schüler Gaetano Labanchi (1829-1908). Zusätzlich zu den klanglichen Vorteilen und zur Variabilität der Artikulationsmöglichkeiten, die das „Übersichblasen“ mit sich bringt, hebt Gaetano Labanchi die grossen dynamischen Möglichkeiten bis hin zum Verklingen lassen des pianissimo hervor:
„Si può talmente assottigliare da produrre i suoni di un'eco piu o meno lontano comecchè si voglia.“
„Man kann auf diese Art die Klangproduktion dermassen verfeinern, dass man die Töne nach Belieben in einem näher oder weiter entfernt klingenden Echo spielt.“
„Untersichblasen“ - mandibularer Ansatz
Beim „Untersichblasen“ (Backofen, 1824)[14] berührt das Blatt die Unterlippe, die Oberlippe bedeckt die oberen Zähne und umhüllt das Mundstück. Diese Ansatzart, auch mandibularer Ansatz[6] genannt (von lateinisch Mandibula, der Unterkiefer), empfiehlt erstmals der norwegische "Bandmaster" Lorents Nicolai Berg (1782)[15]. Gianluca Campagnolo (2019)[1] zeigt auf, dass sich diese Spieltechnik im deutschen Sprachraum schon seit dem Ende des 18. Jh. verbreitete, in Frankreich um 1830 den maxillaren Ansatz ablöste und auch in England angewendet wurde.
Wie beim maxillaren Ansatz verbindet sich auch mit dem mandibularen Ansatz eine Fingertechnik, die häufig "Stützfinger" anwendet. Die Stützfinger decken verschiedene Tonlöcher ab, ohne dass dies eine Tonhöhenänderung bewirken würde. Im Zusammenspiel mit dem rechten Daumen werden diese Stützfinger Teil der Haltearbeit und sind gleichzeitig relevant für die Ansatztechnik: mit der Haltearbeit lässt sich ein sanfter Druck nach oben in Richtung Ansatz und Blatt aufbauen. So ist es nicht notwendig, durch die Aktivierung der Kaumuskulatur (Musculus masseter) einen Druck auf das Blatt auszuüben, Ober- und Unterlippe werden somit geschont.
Heinrich Baermann feierte als Solist 1817/18 in Paris grosse Erfolge.
Frédéric Berr, von 1831 bis 1836 Professor am "Conservatoire National de Musique", war von den dynamischen und klanglichen Möglichkeiten Baermann's dermassen fasziniert, dass er die Technik, die Baermann anwendete, das "Untersichblasen", als Standard in Frankreich einführte. Er behielt aber nota bene weiterhin das "Umhüllen des Mundstückes" mit der Oberlippe bei.
„Le célèbre Baermann nous a fait entendre en 1818 à Paris des sons pianissimo qui étaient tout-à-fait inconnus en France. Il jouait des phrases de quatre mesures avec beaucoup de force, et il les répétait en écho tant de douceur qu’on aurait cru que les sons venaient d’une salle voisine...
Je conseillerais de tenir en garde contre une mauvaise habitude qui existe en Allemagne: c’est de mordre sur le bec. Ce défaut donne une mauvaise qualité de son, et nuit à la flexibilité de l’expression.“
„Der berühmte Baermann ließ uns 1818 in Paris Pianissimo-Klänge hören, die in Frankreich völlig unbekannt waren. Er spielte viertaktige Phrasen mit großer Kraft und wiederholte sie in einem so sanften Echo, dass man meinen könnte, die Klänge kämen aus einem Nachbarraum...
Ich rate jedoch, sich vor einer schlechten Gewohnheit, die in Deutschland vorkommt, in Acht zu nehmen: das ist das Beissen auf das Mundstück. Dieser Fehler gibt eine schlechte Klangqualität und zerstört die Flexibilität des Ausdruckes.“
In Paris folgten auf Frédéric Berr mehrere Generationen, die bis ins 20.Jh an dieser Technik festhielten: Hyacinthe Klosé (1808-1880)[17], Cyrille Rose (1830-1902), Charles Turban (1845–1905), Prosper Mimart (1859-1928)[18] und schliesslich Gaston Hamelin (1884-1951), der in den USA wichtige pädagogische Arbeit leistete.
Die Méthode von Jean Carnaud (1829)[19] belegt, dass bereits im 19. Jh. die Methode, die oberen Zähne auf dem Mundstück abzustützen, benutzt wurde. Carnaud empfiehlt dem Anfänger, beide Ansatzarten auszuprobieren, und selber zu entscheiden, welche Ansatzart für die individuellen Voraussetzungen (Grösse von Lippen und Zähnen) besser geeignet ist.
Dieselbe Ansicht vertritt Eugène Gay (1932)[20]. Danach wurde diese Ansatzart auch in Frankreich zum Standard.
Die Technik des mandibularen Ansatzes, vermutlich noch als Doppellippenansatz, dürfte auch schon Joseph Beer (1744 - 1812) praktiziert und seinen Schülern im deutschen Sprachraum Franz Tausch (1762 - 1817) und Heinrich Baermann (1784 - 1847) weitergegeben haben.
Von Iwan Müller und Carl Baermann zur heutigen Spieltechnik
Iwan Müller patentierte 1812 seine neue, zu 13 Klappen ergänzte Klarinette. Er nannte sie "clarinette omnitonique", da ein Spiel in in allen Tonarten ermöglichte. Er erweiterte dieses System mit Klappen, die vom rechten Daumen und rechten kleinen Finger zu bedienen waren und verfasste dazu um 1821 die Anweisung zu der neuen Clarinette[21]. Er empfahl, mit dem Blatt nach unten zu spielen und zusätzlich mit den oberen Zähnen auf dem Mundstück abzustützen. Dies wurde notwendig, da der rechte Daumen die auf der Rückseite des Instrumentes platzierten Klappen bedienen musste, dazu mehr Bewegungsfreiheit brauchte und in der Folge kaum mehr für die Haltearbeit des Instrumentes eingesetzt werden konnte. Der Ansatz musste dadurch die fehlende Stabilität der Haltearbeit kompensieren. In diesem Zusammenhang entstand ein höherer Druck im Ansatzbereich. Wie damit umzugehen war, beschrieb Ivan Müller in seiner Anweisung (1821):
„Mehrere Gründe raten indessen, das Blatt auf die Unterlippe zu legen (unten zu blasen) denn 1.) der Daumen der rechten Hand wird frey, und braucht die Clarinette nicht zu halten. Hierdurch fällt ein Mangel der alten Clarinette weg, weil man jetzt, vermittelst des freyen Daumens, h und cis, c und es, so wie h und dis und des und es , oder umgekehrt, binden (schleifen) kann [...] Dieser Vortheil wird bey dem Obenblasen schwieriger. 2.) man kann auf die Zähne der unter die Kinnlade ein Stückchen Papier legen, damit die Zähne die Lippe, auf welcher das Blatt ruhet, nicht verwunden. Bey dem Oberblasen leidet die Lippe allemal. 3.) Der Spieler vermeidet die Anstrengung der Gesichtsmuskeln und Züge, welches nicht der geringste der angegebenen Vortheile ist, indem der Spieler auch darauf sehen muss und dem Zuhörer keine unangenehme und peinliche Empfindung zu verursachen. Bey dem Oberlasen kann der Spieler keine völlig ruhige Mine behalten, denn die Oberlippe ist zu klein, dass sie die Zähne leicht ungezwungen bedecken könnte.“
Beim Spiel mit Doppellippenansatz musste der rechte Daumen in Kombination mit der Haltearbeit für die Ansatztechnik eingesetzt werden und beide Lippen waren etwa gleichermassen belastet (die Oberlippe durch das entstehende Drehmoment etwas stärker). Dass Iwan Müller empfiehlt, eine schützendes Papier zwischen Zähne und Unterlippe zu legen, weist darauf hin, dass durch die neuen Daumenklappen die Stützfunktion des rechten Daumens in den Hintergrund trat, und dass der Ansatz nun stärker in die Haltbarkeit einbezogen wurde und dementsprechend grösserer Druckbelastung ausgesetzt war.
Heinrich Backofen überlässt es in der ersten Ausgabe seiner "Anweisung" (1803)[14] jedem einzelnen Spieler, sich für das "ober - oder unter sich blasen" zu entscheiden. In der zweiten Ausgabe (1824)[22], die er für die weiter entwickelte "Inventions-Klarinette" mit zwölf Klappen schrieb, nimmt er betreffend Ansatz Bezug auf die Klarinette von Iwan Müller, und weist auf die Notwendigkeit hin, dass wegen den hinzugefügten Daumenkappen ein "ober sich blasen" nicht mehr möglich war.
„[...] Von Iwan Müller [wurden] noch zwei Verbindungen mit der Cis und Dis Klappe angebracht, welche durch den Daumen der rechten Hand regiert werden können. [...] Allein ob diese Verbindungen sehr zweckmässig sind, so sind sie es doch nur für diejenigen, welche unter sich (nämlich das Blättchen auf die untere Lippe gelegt) blasen; für die andern aber, welche das Blättchen unter die Oberlippe legen, und deren es wohl ebenso viele gibt, ist diese Methode unausführbar, denn für die ersten reicht der Daumen der linken Hand hin, um die Clarinette zu unterstützen; letztere brauchen aber hierzu noch den Daumen der [wohl hier irrtümlich] linken Hand [es muss die rechte Hand gemeint sein]. Wollen sie nun mit diesem die Verbindungsklappen gebrauchen, so muss der Ton für diesen Augenblick unterbrochen werden, weil durch das Gewicht des untern Teils der Clarinette das Blättchen an die Oberlippe und ganz zugedrückt wird.“
Die Änderung der Ansatztechnik beim Spiel auf der Iwan Müller-Klarinette hatte keine klanglichen Gründe, sondern wurde als Folge der grifftechnischen Neuerungen zur Notwendigkeit. Das dürfte der Grund gewesen sein, dass Iwan Müller's Erfindung in Paris nicht die erhoffte Akzeptanz fand.
Carl Baermann (1861)[23], der Sohn Heinrich Baermanns, hält den Ansatz als "für die Tonbildung das wichtigste, ja, er ist eigentlich die Tonbildung selbst." Er war kompromissloser Verfechter des „Untersichblasens“. Im Unterschied zu den in Frankreich und England verbreiteten Lehrmeinungen mussten dabei die oberen Zähne und nicht die Oberlippe das Mundstück berühren. Um das aus Holz gefertigte Mundstück vor Abnützungen zu schützen, wurde es durch eine Silberplatte geschützt. Angebliche klangliche Vorteile des Doppellippenansatzes hielt Baermann als Selbsttäuschung:
„[...] diese Anblasart ist natürlicher und zweckmässiger [...] da die Ausdauer und daher in notwendiger Folge die Sicherheit wenigstens die doppelte ist [...] Viele Klarinettisten spielen die Ober- und Unterlippe über die Zähne gezogen, wodurch der Ton dem Bläser selbst, jedoch nur scheinbar, weicher klingt. [...]“
Ansatzformung heute - Beiträge der Interviewpartner
Bei der heute üblichen Ansatzformung liegt das Blatt an der Unterlippe, die oberen Zähne berühren das Mundstück. Durch Aktivieren des Ringmuskels des Mundes und im Zusammenspiel mit weiteren Anteilen der mimischen Muskulatur formt die Unterlippe ein Kissen, das sich an die untere Zahnreihe anschmiegt. Die Kombination der mimischen Muskulatur dichtet den Ansatz gut ab, so dass bei der Tonproduktion an den Mundwinkeln keine Luft austritt. Die Unterlippe soll weder über die Zähne gezogen, noch auf die Seite gespannt werden.
Ober- und Unterlippe schliessen sich ringförmig um das Mundstück, um den Luftstrom fokussiert auf Mundstück und Blatt richten zu können. (François Benda, Milan Rericha, Paolo Beltramini, James Campbell, Alain Damiens, Eli Eban, Gerald Kraxberger, Seunghee Lee, Ernesto Molinari, Harri Mäki, Frédéric Rapin, Ernst Schlader, Jérôme Verhaeghe).
Alle nachfolgend skizzierten Muskelaktivierungen sollten massvoll angewendet und sorgfältig in Balance gebracht werden. Keith Stein (1958, "Relaxation")[24] weist darauf hin, dass Beschreibungen der Ansatzformung die Gefahr bergen, mit zu viel Kraft umgesetzt zu werden. Es ist immer wieder eine Herausforderung, mit bestimmten Muskeln wie z.B. der Atmung viel Kraft auszuüben, andere Muskeln jedoch gleichzeitig sehr gezielt und mit kleinstem Kraftaufwand zu aktiveren. Ein isoliertes Kennenlernen der verschiedenen Akteure, um sie danach unabhängig voneinander einsetzen zu können, sind wichtige Lernschritte bei der Ansatzformung.
Muskelaktivierungen und deren Funktion
- Der Musculus orbicularis oris umfasst anatomisch die Ober- und Unterlippe. Seine Aktivierung schliesst die Lippen, sind nur die äusseren Anteile aktiv, werden die Lippen wie zum Küssen geformt.
Alle Interviewpartner nennen die Aktivierung des Mundringmuskels, als eine der wichtigsten Grundlagen der Ansatzformung.
Joe Allard[25] ergänzt dies mit einem wichtigen Aspekt: er stellt den Einsatz des M. orbicularis in Zusammenhang mit der Ansatzlinie und den Schwingungsverhalten des Blattes, das auf den beiden Seiten möglichst ohne Druckbelastung bleiben muss. Es muss sorgfältig darauf geachtet werden, den M. orbicularis einzusetzen, ohne den Unterkiefer anzuheben. Dies hätte ein zu enges Umschliessen des Mundstückes zur Folge und würde zu viel Druck auf die Blattschenkel ausüben und dort wichtige Obertöne abdämpfen. Es darf nur soviel Kraft eingesetzt werden, dass seitlich keine Luft austreten kann.
Joe Allard vermeidet, einen Druck von unten auf das Blatt auszuüben und achtet besonders darauf, dass sich die Unterlippe nicht bogenförmig an das Blatt anschmiegt. Das würde die Schwingungen an den beiden Blattseiten beeinträchtigen. Das Abdichten des Mundstückes geschieht deshalb mit der Oberlippe.
Die Unterlippe als elastisches Kissen
In Kombination mit weitern Anteilen der mimischen Muskulatur formt der M. orbicularis die Unterlippe zu einem kompakten, elastischen Kissen. Dieses Kissen federt verschiedene Druckbelastungen ab und gewährleistet eine optimale Schwingung des Blattes (Alain Damiens, François Benda).
- Musculus depressor anguli oris, beidseitig, zieht die Mundwinkel nach unten.
- Musculus transversus menti, unterstütz den depressor anguli oris und strafft die Kinnhaut.
- Musculus risorius, Lachmuskel beidseitig, zieht am aktivierten M. orbicularis seitlich, so dass sich die Lippen an die Zähne anschmiegen. Eine Aktivierung formt auch ein flaches, spitzes Kinn.
- Musculus mentalis]
- Musculus buccinator, Trompetermuskel, auch Saugmuskel genannt; beidseitig, zieht die Wangen zusammen. Hilft, die Lippen an die Zähne anzuschmiegen (vgl. auch Michel Arrignon, "boire à travers und paille").
Geschlossene Mundwinkel – und Spitzes Kinn
Wird der M. orbicularis alleine aktiviert, werden die Lippen leicht nach vorne gestülpt. Um das Mundstück ringförmig zu umschliessen und das Austreten von Luft zu vermeiden, werden die Mundwinkel seitlich eingezogen und die Lippen eng an die oberen und unteren Zahnreihen angeschmiegt (David Shifrin). Dazu müssen weitere Anteile der mimischen Muskulatur eingesetzt werden (Eli Eban). Diese Muskeln können isoliert und in Kombination, auch ohne Instrument trainiert werden (Harri Mäki, James Campbell 1, 2). Die Gesichtsmuskeln bilden ein kompliziertes Geflecht das auch ohne Aktivierungen ineinander verwoben ist. Das gleichzeitige und ausgewogene Aktivieren folgender Muskeln schafft die nötige Stabilität eines Ansatzes, der Luftdruck und Fliessgeschwindigkeit der Luft für eine effiziente Klangproduktion auf das Blatt richten kann.
James Campbell beschreibt ein Dreieck, das sich zwischen drei Punkten, den beiden gut geschlossenen Mundwinkeln und der Spitze des Kinns fixieren lässt. In Anlehnung an den Unterricht bei Robert Marcellus spricht er auch von «Marcellus triangel» oder «Marcellus has a mustache», Klangbeispiel). Weitere Befürworter dieser Technik sind: Seunghee Lee, David Shifrin.
Vorsicht
Ein flaches Kinn soll nur Mittel zum Zweck sein. Arbeitet der M. risorius zu stark und die beiden M. orbicularis und M. Musculus depressor anguli oris zu schwach, ist es einfach, ein flaches, spitzes Kinn herzustellen. Die Unterlippe wir dann seitlich gespannt und ein den Mundwinkeln tritt Luft aus. Oft wird dies mit Beissen auf das Mundstück kompensiert.
John Moses warnt deshalb davor, ein spitzes Kinn zu formen.
Thomas Piercy sieht keine Notwendigkeit, sich auf das Formen eines flachen, spitzen Kinns zu konzentrieren: allzu sehr ist das seitliche Spannen des Ansatzes damit verbunden. Werden hingegen die Vorteile des Doppellippenansatzes auf den einfachen Ansatzübertragen, erübrigt sich diese Diskussion.
Eli Eban weist auf eine günstige Verkettung von Muskelaktivierungen hin: ist die Zungenspitze nach vorne/oben gerichtet, stellt sich automatische ein flaches Kinn ein.
Luftdruck - Luftgeschwindigkeit - Ansatzdruck
Ist der Ansatz geformt und die Luftführung aktiviert, erklingt noch kein Ton, es ist lediglich das Geräusch der durchströmenden Luft wahrnehmbar. Um das Klarinettenblatt in Schwingung zu versetzten, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das beste klangliche Resultat unter körpergerechten Bedingungen wird durch eine erhöhte Luftgeschwindigkeit im Bereich der Blattspitze erreicht.
Erhöhte Luftgeschwindigkeit im Bereich der Blattspitze
Ron Odrich (2017)[26] zeigt auf, dass sich durch eine Position der Zungenspitze in nächster Nähe der Blattspitze die Luftgeschwindigkeit deutlich erhöht. Dadurch ist es nicht notwendig, gleichzeitig den Luftdruck zu erhöhen, um das Blatt in Schwingung zu bringen. Ron Odrich bezieht sich dabei auf das Gesetz von Daniel Bernoulli, das besagt, dass sich die Fliessgeschwindigkeit eines gasförmigen oder flüssigen Stoffes in einem Rohr mit engerem Durchmesser erhöht und sich der Druck gleichzeitig verringert. Reziprok erhält es sich an einer Stelle mit weiterem Durchmesser: die Fliessgeschwindigkeit ist langsamer, der Druck höher. Die Energie ist an beiden Stellen gleich hoch. Das Blatt gerät einfacher in Schwingung, wenn die Fliessgerschwindigkeit der Luft höher ist. Dies wird erreicht, indem sich die Zunge nach vorne-oben bei der Blattspitze Positionen, sich der Luft quasi in den Weg stellt.
Auffallend bei dieser Abbildung ist der steile Winkel der Klarinette und die enge Stelle zwischen Mundstückspitze und vorderem Gaumen. Je nach individueller Zahnstellung wird sich diese Konstellation verändern. Ohne die individuell verschiedenen Konstellationen von Zahnstellung, Lippenform oder Zungengrösse zu berücksichtigen gilt: wenn die Zungenspitze so nahe wie möglich bei der Blattspitze zu positioniert ist, erhöht sich dort die Luftgeschwindigkeit.
- Abbildung rechts: Daniel Bonade, Lehrer von Ron Odrich.
Ansatzdruck
Ein minimal dosierter Ansatzdruck genügt, um in Kombination mit der durch die Zungenposition geschaffen erhöhten Luftgeschwindigkeit vor der Blattspitze die Vibration des Blattes hervorzurufen. Ergibt folgende Möglichkeiten, den Ansatzdruck etwas zu erhöhen, ohne die Kieferposition zu verändern:
- Die Aktivierung der Ansatzformung wird kräftiger betont. Das Kissen, das die Unterlippe formt, wird kompakter, der Halt des M. orbicularis rund um das Mundstück etwas kräftiger. Diese Technik empfehlen: Milan Rericha, Alain Billard, Alain Damiens, Steve Hartman, Frédéric Rapin.
Bernhard Portnoy (1956)[27] ergänzt dies um einen interessanten Aspekt: je nachdem, wie kräftig der M. orbicularis arbeitet, wird die Unterlippe etwas kompakter, und die Klangfarbe etwas heller, klarer. Ist die Unterlippe etwas entspannter, ergibt sich eine weichere Klangfarbe.
- Durch Heranführen des Instrumentes zum Ansatz reguliert die Haltearbeit des Instrumentes den Druck auf das Blatt und verschiebt die Ansatzlinie etwas nach unten (siehe auch Ansatzlinie: Joe Allard, James Campbell, Harri Mäki.
- Der Unterkiefer wird vorsichtig nach vorne/unten geschoben. Das Zusammenwirken des Musculus pterygoideus lateralis (lateinisch für seitlicher oder äußerer Flügelmuskel), der den Unterkiefer nach vorne zieht, mit dem Musculus_mylohyoideus, "Kieferzungenbeinmuskels", auch als Diaphragma Oris bezeichnet, der diese Bewegung nach unten richtet Eli Eban.
Vorsicht, nicht beissen!
Vom Einsatz des, des Beissmuskels, Musculus masseter, einer der kräftigsten Muskeln unseres Körpers, raten alle Interviewpartner ab, oder mahnen zumindest zu einem äusserst vorsichtigen Einsatz dieses Muskels. Die Unterlippe wird einem sehr ungünstigen Winkel einer Druckbelastung ausgesetzt, es besteht die Gefahr, die Unterlippe zu verletzten. Ausserdem verschiebt sich die Ansatzlinie am Blatt nach oben, es schwingt weniger Fläche von Blatt, der Ton klingt gepresst. Keiner der Interviewpartner erwähnt diese Muskelaktivierung explizit als notwendigen Bestandteil der Ansatzformung. Es ist aber klar, dass die Unterlippe, als kompaktes Polster geformt, einen gewissen Druck auffangen muss. François Benda.
Um einem übermässigen Ansatzdruck entgegenzuwirken empfehlen Ernesto Molinari, Ernst Schlader das Spiel auf Bassklarinette oder historischen Klarinetten
Flexible Ansatzlinie
Als Ansatzlinie wird die Stelle bezeichnet, an welcher das Blatt auf der Unterlippe aufliegt. Die Ansatzlinie bestimmt den Anteil des Klarinettenblattes, der frei schwingen kann. Da sich die Spitze des Klarinettenblattes nach vorne verjüngt und da gleichzeitig die Öffnung zwischen Blatt und Mundstück zur Spitze hin grösser wird, wirkt sich derselbe Druck je nach Lage der Ansatzlinie unterschiedlich auf das Schwingungsverhalten des Blattes aus. Empfehlenswert ist es, die Ansatzlinie dort zu platzieren, wo sich das Blatt vom Mundstück zu entfernen beginnt (David Shifrin). Dabei sind individuelle physiologische Voraussetzungen zu beachten: unabhängig von der Ansatzlinie sind die oberen Zähne je nach Zahnstellung an unterschiedlicher Stelle auf dem Mundstück platziert Alain Billard, Jérôme Verhaeghe).
In der Klarinettenschule von Joseph Fröhlich (1811) findet sich eine frühe Quelle, die je nach Tonhöhe eine unterschiedliche Lage der Ansatzlinie empfiehlt:
„...dass man das Rohr ohne allen Zwang oder merkbaren Absatz immer tiefer bis fast an den Faden in den Mund nehme, indem man mit den Lippen immer fester drückt, ohne den Ansatz selbst zu ändern, denn das muss bloss das Werk der Lippen seyn.“
Eine flexible Ansatzlinie lehrte auch Gaston Hamelin, ein Vertreter der Alten Französischen Schule in den USA. Sein ehemaliger Student Joe Allard und Daniel Bonade's Student Bernard Portnoy (1956)[27] beschreiben die praktische Anwendung einer flexiblen Ansatzlinie um dynamische Abstufungen - bei gleichbleibender Intonation – zu realisieren: Im ff liegt die Ansatzlinie etwas weiter unten am Blatt, im pp ist sie weiter oben platziert. Und zwecks sicherer Ansprache in den unterschiedlichen Registern: Im Chalumeau und in der Mittellage liegt die Ansatzlinie weiter oben am Blatt, im Klarinregister etwas weiter unten und in der hohen Lage verschiebt sich diese Linie noch etwas weiter nach unten. Ebenso wichtig für Joe Allard ist, dass die Ansatzlinie die Seitenränder des Blattes nicht mit unnötigem Druck belastet und dort die Schwingung abdämpft. Dies erfordert einen differenzierten Einsatz der mimischen Muskulatur.
Weitere Beiträge dazu: John Moses, Richard Stoltzman
Martin Spangenberg, Professor an der Hanns Eisler Musikhochschule in Berlin, gibt dazu folgenden Kommentar: "Die Ansatztechnik, bei welcher der Ansatz durch Druck gegen die oberen Zähne stabilisiert wird, findet bei vielen Klarinettisten erfolgreiche Anwendung. Damit verbindet sich Stabilität im Ansatzbereich. Ich halte es jedoch für notwendig, die Ansatzlinie entsprechend der gespielten Tonlage weiter oben oder weiter unten am Blatt platzieren zu können. Dies bedingt entsprechende Flexibilität bei der Positionierung des Mundstückes. Die Haltearbeit des Instrumentes wird so zum Teil der Ansatzformung, je nachdem wie weit das Mundstück in den Mund angesetzt wird, verschiebt sich die Ansatzlinie auf dem Blatt nach unten oder nach oben. Bei höheren Tönen liegt die Ansatzlinie weiter unten.“[29].
Weiter ist zu beachten:
- Durch eine geschlossenere Kieferposition verschiebt sich die Ansatzlinie nach oben, es schwingt dementsprechend eine kleinere Fläche des Blattes, durch eine eher geöffnete Kieferposition lässt sich in Kombination mit der Haltearbeit die Ansatzlinie weiter unten am Blatt platzieren.
- Durch gleichzeitiges nach vorne-unten Schieben des Unterkiefers kann die Ansatzlinie weiter unten am Blatt platziert werden. Diese Technik sollte mit Vorsicht und entsprechend der individuellen Zahnstellung angewandt werden. Siehe auch François Benda und Keith Stein, Steve Hartman, Sylvie Hue
- Die Ausmasse des Mundstückes: ein schlankeres Mundstück hat zur Folge, dass bei gleichbleibender Öffnung des Unterkiefers mehr Mundstück in den Mund genommen wird und sich dadurch die Ansatzlinie nach unten verschiebt.
Anblaswinkel
Über den Winkel, den die Klarinette zum Körper bilden soll, gibt es verschiedene Lehrmeinungen. Frédéric Berr[16], Heinrich Backofen[22], Paolo Beltramini, Joseph Fröhlich, Milan Rericha, John Moses, David Shifrin beschreiben einen Anblaswinkel von 40° bis 45°. Jean-Xavier Lefèvre (spielte mit Doppellippenansatz) weist darauf hin, dass ein zu offener Anblaswinkel das Spiel in hoher Lage erschwert.
Harri Mäki kombiniert die Flexibilität von Ansatzlinie und Anblaswinkel: er empfiehlt, bei einem crescendo den Winkel enger werden zu lassen, und gleichzeitig das Instrument etwas in Richtung Ansatz zu schieben. Die Tonqualität bleibt besser.
James Campbell erinnert sich an die Lektionen mit Daniel Bonade und stellt den Zusammenhang zwischen steilerem Anblaswinkel, schnellerer Luftgeschwindigkeit an der Mundstückspitze und entsprechend singendem Klang her.
Wie die Ansatzlinie ist auch der Anblaswinkel im Zusammenhang mit den individuellen physiologischen Voraussetzungen zu betrachten. Ausserdem kann ein nach vorne geneigter Kopf dieselbe Wirkung haben wie ein sehr weiter Anblaswinkel mit aufgerichteter Kopfstellung (Sylvie Hue, Michel Westphal, Alain Damiens).
Thomas Piercy macht sich diesen Zusammenhang zu Nutze und lehnt den Kopf etwas zurück. Dies hat den selben Effekt, wie wenn er das Instrument näher an den Körper nehmen würde.
François Benda, Eli Eban und Frédéric Rapin stellen den Anblaswinkel in den Zusammenhang mit den individuellen Voraussetzungen Zahnstellung oder auch der Zunge (Benda). Michel Arrignon stellt den Zusammenhang zwischen Anblaswinkel und Dynamik her: ein offener Winkel lässt eine grössere Dynamik zu, der Klang ist jedoch schwieriger zu kontrollieren. Auch die Mundstückbahn hat einen Einfluss auf den idealen Anblaswinkel.
Wird die Klarinette näher beim Körper gehalten, muss je nach Zahnstellung und Öffnung des Mundes (Kieferposition), auch mehr Mundstück in den Mund genommen werden, um genügend Fläche des Blattes schwingen zu lassen. Bei gleicher Kopfstellung lässt sich beobachten:
- Ein offener Winkel schafft einen weiteren Durchmesser des Luftweges bei der Mundstückspitze und hat eine weiter oben liegende (siehe Ansatzlinie zur Folge.
- Ein engerer Winkel bedingt ein grösseres Öffnen der Kieferposition oder erhöht den Druck auf das Blatt, und hat eine tiefer liegende Ansatzlinie zur Folge. Die Mundstückspitze liegt näher beim harten Gaumen. Dies ermöglicht es, einen engeren Durchmesser des Luftweges bei der Mundstückspitze zu schaffen, siehe Abbildung Ron Odrich (2017).
Doppellippenansatz?
Aus der Tradition der Alten Französischen Schule hervorgehend empfehlen James Campbell, Eli Eban 1, 2 Heinrich Mätzener, David Shifrin, Philippe Cuper, Pascal Moraguès, Harri Mäki, und Thomas Piercy den Doppellippenansatzes für Übungen der Tonbildung anzuwenden.
Günstige Verkettungen von Muskelspannungen
Beim Doppellippenansatz verändern sich automatisch die Ausformung der Mundhöhle, sowie die Zungenposition und -Form. Das Zentrieren und Einrollen der Lippen über die oberen und unteren Zähne, so dass diese weder Mundstück noch Blatt berühren, löst weitere Muskelaktivierungen in der Mundhöhle aus. Es stellen sich Konstellationen im Innern des Mundes ein, wie sie sich beim Saugen mit einem Trinkhalm ergeben. Folgende Muskeln sind dabei involviert:
- Musculus mylohyoideus: wie nach dem Hinunterschlucken zieht er das Zungenbein nach vorne, spannt den Mundboden nach unten und öffnet so den Rachen.
- Musculus digastricus: er ist hier stellvertretend für weiter Muskeln genannt, die an der Kieferöffnung (Abduktion des Unterkiefers) beteiligt sind.
- Musculus longitudinalis superior und inferior: sie sorgen beide für das Anheben der Zungenspitze.
Ein Klangbeispiel von Harold Wright, der bei Ralph McLane mit Doppelllippenansatz studierte, gibt einen Eindruck dieser Spieltechnik. Steve Hartman, Richard Stoltzman und Thomas Piercy wechselten nach ihrem Studienabschluss, teils nach mehreren Jahren Berufspraxis, ihre Technik zum Doppellippenansatz. Folgende Gründe dürften sie zu diesem aufwendigen Wechsel motiviert haben:
Spieltechnische Veränderungen
- Die Ausformung des Mundinnenraumes verändert sich in positiver Art und Weise: während sich der weiche Gaumen hebt und sich der Rachen öffnet, findet sich die Zungenspitze automatisch nahe an der Blattspitze. Die Luftgeschwindigkeit nimmt in diesem Bereich zu, das Blatt lässt sich mit geringerem Luftdruck in Schwingung versetzen (siehe auch Ron Odrich). Diese Konstellation ist mit normalem Ansatz auch möglich, bindet jedoch mehr Aufmerksamkeit Thomas Piercy.
- Ober- und Unterlippe halten mit den Mundwinkeln das Mundstück, es gibt praktisch keinen vertikalen Druck auf das Blatt Thomas Piercy.
- Es ist nicht mehr nötig, sich mit viel Energie und Aufmerksamkeit dem Formen eines flachen Kinns zu widmen, dies stellt sich durch eine günstige Muskelverkettung automatisch ein. Thomas Piercy.
Musikalische Vorteile
(siehe auch Ralph McLane (1950) in clarinet central)
- Das Legatospiel grösserer Intervalle und über die Registerwechsel wird einfacher
- Klangfarbenwechsel lassen sich einfach realisieren.
- Die Position der Ansatzlinie ist flexibel und lässt sich einfach den verschiedenen dynamischen Stufen und Registerlagen anpassen.
- Die Intonation lässt sich besser kontrollieren, Fortepassagen werden nicht tiefer
- Das fingertechnische Spiel wird leichter, der Bezug zur Haltearbeit ist sensibler Thomas Piercy.
Mit Doppellippe Üben, mit normalem Ansatz spielen
David Shifrin und Thomas Piercy sehen einen grossen Vorteil darin, dass sich komplizierte Erklärungen, was in die Ausformung der Mundhöhle und die Form und Position der Zunge betrifft, erübrigen.
„Ich lasse Tonübungen von den Studenten mit Doppellippenansatz ausführen. Die ist für die Tonbildung sehr empfehlenswert. Das aktive Umschliessen des Mundstückes durch beide Lippen bringt die Zunge grundsätzlich in eine für die Resonanzformung günstige Form. Wird die Zungenspitze in die Nähe der Blattspitze gebracht, optimiert sich die Resonanzformung zusätzlich. Die notwendige Spannung im Kinn („spitzes Kinn“) stellt sich dabei automatisch ein.“
Bei kurzen, regelmässigen Übsequenzen mit Doppellippenansatz können die Vorteile dieser Ansatzart auf den einfachen, herkömmlichen Ansatz übertragen und mit seinen Vorteilen (Schonen der Oberlippe, Ausdauer und Stabilität der Tonführung) kombiniert werden. James Campbell übernimmt die didaktischen Prinzipien seines Lehrers Yona Ettlinger und nennt den Doppellippenansatz den “idealen Ansatz”. Auch er lässt Tonübungen mit Doppellippenansatz spielen, um anschliessend die vorteilhafte Ausformung der Mundhöhle und die Kräftigung der Lippenmuskulatur auf den normalen Ansatz zu übertragen. James Campbell spielt die Konzerte mit normalem Ansatz.
Michel Arrignon würde diese Aufgaben nur Fortgeschrittenen Student*innen geben, für Anfänger wäre es kontraproduktiv.
Richard Stoltzman würde seinen Studierenden das Spiel mit Doppellippenansatz keinesfalls vorschreiben.
Hinweise für den Wechsel vom einfachen zum Doppellippenansatz
Bei der Anwendung des Doppellippenansatzes bietet es sich an, einen Blick in das 'Traité' von Frédéric Berr (1832)[16] zu werfen.
„Le Bec, étant ainsi tenu par les deux lèvres avec une légère pression qui s'oppose seulement à la sortie de l'air par les coins de la bouche, doit avoir un mouvement libre: une pression trop forte rapprocherait l'anche de la table et empêcherait la vibration nécessaire à la qualité du son, qui serait court et étouffé. Cependant il faut un peu augmenter la pression pour obtenir les sons aigus.“
„Das Mundstück, das so von beiden Lippen mit einem leichten Druck, der nur das Austreten von Luft bei den beiden Mundwinkel verhindert, gehalten wird, muss sich frei bewegen können: Ein zu starker Druck würde das Rohrblatt näher an die Mundstückbahn pressen, und die für die Klangqualität notwendige Vibration einschränken, sie würde in der Folge zu früh abbrechen und wäre gedämpft. Um die hohen Töne zu spielen, ist es jedoch notwendig, den Druck ein wenig zu erhöhen.“
- Frédéric Berr spricht von einem frei beweglichen Mundstück. Das bedeutet, dass mit der Haltearbeit das Mundstück leicht in Richtung Ansatz geschoben werden kann, um auf diese Weise für die höheren Töne den Druck auf das Blatt leicht zu erhöhen (siehe auch Flexible Ansatzlinie).
- Der Kiefer bleibt grundsätzlich in derselben, leicht geöffneten Stellung, die Lippen umhüllen ("enveloppent") das Mundstück. Es wird nur ein minimaler Druck erzeugt. Der M. orbicularis schliesst sich wie eine optische Linse rund um das Mundstück, die Anteile der mimischen Muskulatur schmiegen die Lippen dicht an die Zähne an und formen die Unterlippe zu einem kompakten Kissen. Gleichzeitig schiebt die Haltearbeit das Instrument ein wenig in Richtung Ansatz. Diese beiden Kräfte wirken subtil ineinander, vgl. Eli Eban.
- Durch die fein dosierte Druckerhöhung verschiebt sich die Ansatzlinie am Blatt leicht nach unten, was das Schwingungsverhalten des Blattes begünstigt.
Einen gut erläuterten Zugang zum Thema Dopellippenansatz aus heutiger Sicht vermittelt Robert Adams.
Literatur
Unterrichtswerke, Artikel
- Johann Georg Heinrich Backofen (1803)[14]
- Carl Baermann (1861)[23]
- Frédéric Berr (1836)[16]
- Gaetano Labanchi (1886 ?)[13]
- Jean-Xavier Lefèvre (1802)[9]
- Keith Stein (1958)[24]
- Bernard Portnoy (1956)[27]
- Larry Guy: Embouchure Building for Clarinetists: A Supplemental Study Guide Offering Fundamental Concepts, Illustrations, and Exercises for Embouchure Development. Rivernote Press, 2011.
- Larry Guy und Daniel Bonade: The Daniel Bonade Workbook: Bonade’s Fundamental Playing Concepts, with Illustrations, Exercises, and an Introduction to the Orchestral Repertoire. Rivernote Press, 2007.
- David Pino (1998)[31]
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Campagnolo, Gianluca 2019. Prassi esecutiva e repertorio per clarinetto. Liberiauniversitaria, Padova[1]
- ↑ Hoeprich, Eric. "'Regarding the Clarinet': "Allgemeine Musikalische Zeitung", 1808." Early Music 37, no. 1 (2009): 89-99. Accessed July 9, 2020. www.jstor.org/stable/27655302.
- ↑ Blazich, Joan "Amand Vanderhagen’s Méthode Nouvelle et Raisonnée Pour la Clarinette (1785) and Nouvelle Méthode de Clarinette (1796): Complete Translations and Analyses of the First Classical Clarinet Treatises." Electronic Thesis or Dissertation. University of Cincinnati, 2005. eta.ohiolink, abgerufen am 25 September 2020
- ↑ Pearson, I. E. (2018) Übersichblasen-Untersichblasen [reed above/below]. In: Lexikon der Holzblasinstrumente: Oboe, Klarinette, Saxophon und Fagott – Baugeschichte und Spielpraxis – Komponisten und ihre Werke – Interpreten. Laaber, Laaber, Germany, pp. 747-748. ISBN 978-3-89007-866-3 {www.academia.edu, 3. Dezember 2020}
- ↑ Franz Joseph Fröhlich: Vollständige theoretisch-pracktische Musikschule für alle beym Orchester gebräuchliche wichtigere Instrumente zum Gebrauch für Musikdirectoren - Lehrer und Liebhaber - IIte Abtheilung, Clarinettenschule Bonn, 1811, S.14. google books abgerufen am 24. September 2020.
- ↑ 6,0 6,1 Heinz Becker. "Chalumeau" und "Klarinette" In Honegger, Marc, Günther Massenkeil, und Gerald Abraham. 1978. Das grosse Lexikon der Musik. Freiburg [etc.]: Herder.
- ↑ Amand Vanderhagen: Méthode nouvelle et Raisonnée. Paris 1785.
- ↑ 8,0 8,1 Blasius, Frédéric 1796. Nouvelle méthode de clarinette et raisonnement des instruments. Paris: Porthaux, 1796. Reprint Geneva: Minkoff, 1972.
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- ↑ Ferdinando Busoni: Scuola di perfezionamente per il clarinetto: scale di esercizi in tutti toni...con aggiunta di sette grandi studi. Hamburg-Cranz, 1883. Zitiert nach Eric Hoeprich: The Yale Musical Instrument Series, The Clarinet. Yale University Press: New Haven and London 2008. S. 201-202. Stand 18. Juni [3] 2014
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- ↑ Ferdinando Sebastiani: ’’Methodo per clarinetto’’. Napoli 1855. Zitiert nach Ingrid Elizabeth Pearson[5]: „Ferdinando Sebastiani, Gennaro Bosa and the Clarinet in Nineteenth-Century Naples“. In: The Galpin Society Journal, Vol 60, 2007, S. 209
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- ↑ 14,0 14,1 14,2 Backofen, Johann Georg Heinrich, and Karl Ventzke. 1986. Anweisung zur Klarinette nebst einer kurzen Abhandlung über das Basset-Horn. Celle: Moeck.
- ↑ Rice, Albert (1979-1980).The Clarinet as Described by Lorents Nicolai Berg (1782), Journal of the American Musical Instrument Society 5-6 (1979-1980), 42-53 [7]
- ↑ 16,0 16,1 16,2 16,3 16,4 Frédéric Berr: Traité complet de la clarinette a quatorze clefs; manuel indispensable aux pearsonnes qui professent cet instrument et à celles qui l'étudient. Duverger, Paris 1836, p.8.[8]
- ↑ Hyacinthe Klosé: Méthode"pour servir á l'enseignement de la clarinette : á anneaux mobiles, et de celle á 13 clés. Meissonnier, Paris 1843 [9] {18. N0vember 2020}
- ↑ Prosper Mimart: Méthode nouvelle de clarinette théorique et pratique... . Enoch, Paris 1911
- ↑ Carnaud, Jean: Méthode pour la clarinette à 6 et à 13 clefs Paris, 1829 imslp abgerufen am 25. September 2020
- ↑ Eugène Gay: Méthode progressive et complète (théorique et pratique) pour l'étude de la clarinette du début à la virtuosité. G. Billaudot, Paris 1932
- ↑ 21,0 21,1 Müller, Iwan. 1826. Anweisung zu der neuen Clarinette und der Clarinette-Alto: nebst einigen Bemerkungen für Instrumentenmacher ; [Op. 24]. Leipzig: Hofmeister. S.23,24 imslp, abgerufen am 25. September 2020
- ↑ 22,0 22,1 22,2 Johann Georg Heinrich Backofen: Anweisung zur Klarinette mit besonderer Hinsicht auf die in neuern Zeiten hinzugefügten Klappen, nebst einer kurzen Abhandlung über das Bassett-Horn. Leipzig, 1824. imslp, abgerufen am 25. September 2020.
- ↑ 23,0 23,1 23,2 Carl Baermann: Vollständige Clarinett-Schule: von dem ersten Anfang bis zur höchsten Ausbildung des Virtuosen; Erster Theil Op.63 S. 5. Johann André, Offenbach/Main 1861
- ↑ 24,0 24,1 Stein, Keith. 1958. The art of clarinet playing. Princeton: Summy-Birchard Music.
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- ↑ Martin Spangenberg: Gespräch mit Heinrich Mätzener am 14. April 2014, Hochschule für Musik Hanns Eisler, Berlin (n. publ.)
- ↑ David Shifrin: Gespräch mit Heinrich Mätzener, Yale University School of Music, 29. März 2014 (n.publ.)
- ↑ Pino, David. 1998. The clarinet and clarinet playing. Mineola, N.Y.: Dover.The Clarinet and Clarinet Playing